Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Wenn schon die Probleme der Ex-DDR kaum zu lösen sind, was soll man erst zur SU sagen, der Korruption dort, die sich in äonischen Maßstäben ausbreitet? – Die riesigen Archive, die noch niemand angefaßt hat. Millionen Tote, Millionen Schicksale. Aus den Paßbildern, die überliefert sind, schauen sie uns an. Einfache Menschen, die nichts weiter getan haben, die nicht einmal«dagegen»waren: zu Staub zerfallen. Und die Akten werden ihnen folgen.
Hier bei uns sind nun die Ordnungsmenschen an der Reihe, sie wollen dem territorialen Zuwachs natürlich auch einen Namen verpassen. Verschiedene waren vorgeschlagen worden: Ex-DDR, die neuen Bundesländer, Ostdeutschland, die Beitrittsländer. Dann stand es plötzlich auf den neuen Briefmarken:«Deutschland». – Ist man ein Nationalist, wenn man sich darüber freut?
Die Weltöffentlichkeit wurde wachgerüttelt, als von Tengelmann auf dem Gelände des KZ Ravensbrück (etwas abseits, wenn ich die Fotos recht interpretiere) ein Tengelmann-Laden gebaut wird. Die Weltöffentlichkeit hat sich nicht aufgeregt darüber, daß die ehemaligen Baracken als Kaserne für SU-Besatzer benützt wurden (werden!), mit Marketenderei, Gaststätten, Schießplatz usw. Und ein Zirkus hat auch schon mal auf dem Gelände gastiert.
Nun kommt heraus, daß nicht die Deutschen den Irakern Chemikalien für Giftgas geliefert haben (oder nicht nur), sondern ausgerechnet England, das sich moralisch gegen uns immer so schön entrüstet. Das erfährt man ganz nebenbei.
Kaganowitsch ist gestorben. Daß ein Massenmörder 98 Jahre alt wird!
Jetzt geht es den DDR-Spionen an den Kragen. Durch irgendeinen Richterspruch wird’s möglich. Die FAZ spricht von 5000 Verfahren! Dazu kommen noch 600 Westdeutsche, die für den DDR-Geheimdienst gearbeitet haben. Das sind wirklich«Schweine».
2007: Es heißt jetzt, daß die DDR-Spitzel in«Fraktionsstärke»im Bundestag gesessen hätten.
Die Särge der beiden Preußenkönige sollen in einem«Packwagen aus den 30er Jahren»transportiert werden.
Simone aus Berlin, sie hat schon was gefunden, Krankenakten, aber nicht sehr viel. Die liegen in irgendeinem Heizungskeller.
Hildegard und Schwägerin sind heute früh nach Rostock gefahren. Ich fand neben versöhnlichen Zeilen meiner Frau eine psychologische Charakterisierung meines Wesens vor.
M/B: Am Nachmittag erweiterte ich noch das Kapitel von den zwei Typen, die der lieben Anita an die Wäsche gehen. Sie stehlen das Auto.
Nartum Di 30. Juli 1991, heiß
Tag der Seekriegsflotte der UdSSR
Sonnenfrühstück auf der Terrasse. Einsam bin ich, nicht allein. Der Hahn wechselt den Fuß, er steht neben mir und sieht mich an. Hildegard meint, das ist wohl das Männliche, das Gleichgleich. Lieschen springt mir – wie immer – auf den Schoß. Hildegard meint, daß Lieschen, als Fräulein, nach dem Männlichen verlangt.
Heute weht es ein bißchen, die Glöckchen in den Bäumen klingeln.
Jeder hat so seine Lieblingsecke im Haus. Auf der Terrasse«zieht»es, und es ist uns noch nicht gelungen, dort eine einigermaßen glückliche Atmosphäre herzustellen. Deshalb sitze ich hier auch sehr ungern, auch wenn die Glasglöckchen in den Bäumen klingeln.
Ich lese gerade im Buch von Rolf Schroers über die Zonengrenze 1962.
Diese geisterhafte, bleiche Doppelreihe von verdrahteten Betonpfeilern quer durchs Land, sie geht durch uns selbst hindurch. Deutschland … das ist diese irrsinnige Allee, ist der versteppende, verminte 1300-km-Streifen mit den drei Zäunen und den Posten hüben und drüben. Daß wir die Schuldigen kennen, hilft nicht.
Ich muß jetzt sehr viele«Zeugnisse»sammeln. Bin neugierig, wie die Kollegen sich angebiedert haben, an den real existierenden Sozialismus. Soll ich denunzieren? Sie haben sich versündigt, und sie bereuen es nicht. Sie haben es vermutlich vergessen, was sie getan haben.«Verdrängt», wie es heute heißt. Für alles Widerliche werden abschwächende Ausdrücke erfunden, und alles Schönes, das uns noch begleitet, werten sie ab.
Man muß der Erinnerung aufhelfen, das ist die Aufgabe des Historikers.
Der Tierarzt erzählt von Bio-Bauern, wie die ihre Tiere halten. Zwei Schafe habe man auf der Wiese von Grasfleck zu Grasfleck tragen müssen, so schwach. Von Krankheiten zerfressen. Schweine, die bis zum Bauch in ihrem eigenen Dreck stehen. Wie sagte meine Mutter, wenn es zu Tisch ging:«Gesegnete Mahlzeit.»
Meine Tage sind ein wüstes
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