Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
unseren Kontinent. Das hat dann zur Folge – wenn wir unseren Experten glauben dürfen -, daß die Hühner weniger Eier legen werden.
Schon jetzt stehe fest, daß die Überführung Friedrichs II. – in Deutschland«Alter Fritz»genannt – ein Medienspektakel wird. 100 000 Bürger würden daran teilnehmen. Da müssen sie dann für 100 000 Mark den Rasen erneuern.
2007: Rasen kriegt man jetzt in so Rollen, Fußballfelder werden damit ausgelegt. Ob sich auch ein paar Gänseblümchen in den Graswalzen erhalten? Mindert das die Qualität?
Der«Spiegel»will Krause ans Leder, dem Verkehrsminister, weiß nicht, was er verbrochen hat.
Rostock Di 6. August 1991, heiß
Ungern abgefahren, im Grunde vertrieben. Lust, für immer fortzubleiben. Fremdheit gegen alles Vertraute.
Hier in Rostock ist Nartum völlig verschwunden, es wird aber wohl wieder auftauchen.
Lange Fahrt, 3½ Stunden. Es sind genau 275 km. Hier fuhr ich gleich zu Schulkamerad Jochen, der etwas besser in Schuß war als das letzte Mal. Sie haben jetzt dort auch West-Medizin, und die haut natürlich gleich durch. Seine Frau, eine der beiden Twins, war dabei, die Straße zu reinigen. Sie erkannte mich. – Ich verabredete mich zu morgen«16 Uhr», wie Jochen sagte. Es kam auch Bärbel dazu, sie sehen sich immer noch sehr ähnlich. Es herrschte große Freude im Haus, denn gerade war es dem Patriarchen gelungen,«alles zurückzubekommen», also diverse Grundstücke.
Ich sagte:«Ich möchte gern zurückkehren und hier ein Zimmer mieten, irgendwo.»
Bärbel:«Das wollen viele.»
(Das tat weh.)
Weshalb sagte sie das?
Wir gingen die Reihe der Bekannten durch, es sind fast alle im Westen. Von 26 Schülern sind noch drei im Osten.
Es ist fast lächerlich, wie verändert Rostock aussieht, obwohl es noch dieselbe Stadt ist. Als 10jähriger war ich in der Wohnung des Schulkameraden, die in den 20er Jahren eingerichtet wurde. Alle Möbel stehen noch an derselben Stelle, alle Bilder hängen noch.
Das Pflaster der Straße spielt bei solchen Erinnerungsgängen auch immer eine Rolle.
Ich fuhr dann schweißüberströmt ins Hotel, ging gleich wieder in die Stadt, da das Zimmer noch nicht fertig.
Das übliche Gelatsche, wobei mir die Power dieser Stadt auffiel, es ist ein Wildwest-Aufbruchs-Gekrabbel. Sehr ekelhaft die 20 Glücksspieler, die den gesamten Hopfenmarkt bevölkerten mit ihren idiotischen Tricks, und die Ossis, die’s doch eigentlich wissen müßten, standen davor und machten mit. In Warnemünde hat man Rocker engagiert, die mit Eisenketten dazwischenschlugen, da waren die Brüder rasch verschwunden. – Ich saß etwas am«Brunnen der Lebensfreude»und beobachtete die Kinder. Und die Hunde, die sich in das Wasser kuschelten. Obwohl häßlich und künstlerisch bedenklich – sie erinnert an die Nazi-Zeit -, ist diese Einrichtung doch ein voller urbaner Erfolg. Und warum soll man bei jeder Kleinigkeit gleich grundsätzliche Betrachtungen anstellen? Hauptsache, das Wasser spritzt; Hauptsache, die Kinder freuen sich.
Ich versuchte, Herrn Renne zu treffen, Intendant des Volkstheaters, da war aber alles zu und Herr Renne auf Urlaub. Es wäre doch schön, wenn wir im Winter 92/93 gleichzeitig in Lübeck und Rostock ein Stück«Echolot»präsentierten. Ich stelle mir das als Podiumslesung vor mit Musik und Lichtbildern, die mit den Texten kontrastieren. Nun, das einzufädeln haben wir noch viel Zeit.
In einem Café aß ich ein sehr gutes Wurstbrot und freute mich darüber, daß ich von zwei westdeutschen Damen erkannt wurde -«Ja, du hast recht, das isser!»-, die mich aber leider nicht ansprachen.
Ich ging dann ins Rathaus und mußte feststellen, daß auch dort alles auf Urlaub ist, was mich nicht weiter ärgerte. Auch auf dem Neuen Markt Glücksspieler. – Allenthalben Entkernung von Häusern.
Den Kulturmenschen Waack jedoch angetroffen, der in einem unglaublich heruntergekommenen Haus in der Rungestraße residiert. Er versprach, meinen Übersiedlungswunsch in der Presse publik zu machen. War auch sonst zugänglich, ging mit mir in das Gefängnis Schwaansche Straße, in dem Mutter damals saß. Es wird jetzt abgerissen. Ich hielt ein Meditationsstündchen ab, ging die Gänge hinauf – hinunter, über Glasscherben der zerschlagenen Fenster, Wasserlachen, herausgeworfene Matratzen, Schemel. Ich bat Herrn Waack, mir eine Tür zu besorgen. Mutter hatte im dritten Stock gesessen, ich hab’ versucht, aus dem Fenster zu gucken, was
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