Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Ankämpfen gegen die Zeit.
Ich vernichte die Gegenwart, meine Gegenwart, der Vergangenheit zuliebe.
Die Gegenwart ist der Schrott, aus dem ich die Vergangenheit gieße.
Nartum Mi 31. Juli 1991, heiß
Freundliche Leser haben mir einen Sonnenschirm geschickt. Er ist bunt gemustert, fällt aber dauernd um. Soll ich ihn über die Schulter nehmen, wie die Soldaten ihr Gewehr?
36 Mio. Pkws gibt es in Deutschland. Man müßte mal einen Tag kreieren, an dem sämtliche Autos Deutschlands sich auf die Straße stellen (fahren werden sie dann wohl nicht können). Erst durch eine solche Demonstration würde den Menschen klarwerden, was sie anrichten. Aber – seien wir ehrlich: Auch die autofreien Sonntage unter Willy Brandt haben keine Umkehr bewirkt, da haben sich nur ein paar Radfahrer gefreut.
Gipfel in Moskau.
6000 Atomsprengköpfe je Supermacht bleiben. Wie kontrolliert man so was eigentlich? Durch kleine schwarze Kästen, die sie auf die Wiese stellen? Das nützt den armen Bauern in Tschernobyl auch nichts. Manche schleichen sich zu ihren Ziegen zurück. Die werden dann gefilmt. Andere, tapfere Feuerwehrmänner, die, in Regenmäntel gekleidet, die glühend aus der Unterwelt emporbrennende Katastrophe mit Sand abzudecken versuchten, liegen noch immer unter ihren Plastikzelten. Ob Schulkinder ihnen immer noch Blumensträuße überreichen? Das sind die Vergessenen.
2007: Jetzt haben sie bis auf den Millimeter genau den Mittelpunkt der Erde ausgerechnet. Ich weiß nicht, was das soll. Haben die Leute nichts zu tun? Zu gleicher Zeit holt sich Hape Kerkeling Fußblasen auf dem Jakobsweg. Das ist schon interessanter. – Der Mittelpunkt der Erde? Der Mittelpunkt unseres Denkens – davon spricht niemand. Heutzutage gibt es Bischöfinnen, die sich scheiden lassen und trotzdem im Amt bleiben. – Sogar die Chinesen wollen zum Mond fliegen, und die Amis haben den Mars aufs Korn genommen. Ich bin sicher, daß sich Verrückte finden, die schon jetzt auf diese Reise trainieren. Auf dem Mond treffen sich dann die verschiedenen Nationalitäten, da können sie dann ja über Abrüstung verhandeln.
Ein unendliches Gerede über die Überführung Friedrichs des Großen. Wenn man an das Theater um Churchill oder Adenauer denkt! Oder Napoleon!
Trampe meint sogar, das sei ein zweiter Tag von Potsdam!
Ich habe in der«Welt»geschrieben – mich«dahingehend geäußert»-, daß mir dieser Festakt ganz egal ist. Das hat mir böse Leserbriefe eingetragen.
Die Hitze heute war enorm.
Ein junges Paar erschien, aus Seevetal.
Eine Mathematikstudentin, 1963 geboren, zur Wiedervereinigung:
Man hat gar nicht daran gedacht, dies war eben«hier»und das war DDR. Aber gefreut hab’ ich mich doch. Ich habe tagelang am Fernseher gesessen, Stunde um Stunde. Hab’ abgestellt, die ganzen Debatten, und dann bin ich aber wieder hingegangen und hab’ wieder angestellt. Ich seh’ noch, wie Genscher – als das da losging mit dem Ausreisen, wie der da auf dem Balkon stand und das da verkündete, und alle rissen die Arme hoch! Einzelne Bilder hat man noch vor Augen, die Frau, die ihr Kind über den Zaun reicht. – Eigenartig, daß man vom innerdeutschen Ministerium nichts gehört hat, damals, die hätten doch eigentlich gefaßt sein müssen auf alles.
Und ihr Freund:
Ich hab’ die Einheit sehr begrüßt. Alle Verwandten meiner Mutter wohnen drüben, und daß die nun auch mal kommen durften plötzlich, hierher. – Ein Stück Normalität war eingekehrt.
Lit.: Thomas Mann, Tagebücher. Seine erste Schiffsreise nach Amerika. Er beschreibt sehr lustig, wie er wegen des Seegangs zwangsläufig stehenbleibt oder ganz schnelle Schritte tut. – Wenn ich nichts zu lesen habe, greife ich immer zu seinen Tagebüchern. Es ist mir immer so, als ob ich dazugehöre. Seine Art, die Dinge zu sehen. Ein Pedant war er ja nun wirklich.
August 1991
Nartum Do 1. August 1991
I973: Walter Ulbricht gestorben
Simone ist wieder da. Sie ist voll von den Erlebnissen in Berlin und hat interessantes Material mitgebracht, Euthanasistisches, das sich aber nur schwer ins«Echolot»einordnen lassen wird. Die Briefe, an die ich dachte, von Angehörigen vielleicht oder schriftliche Zeugnisse der Kranken, fehlen.
Renate wird im Selbstmordfall ins Wasser gehen, hat sie mir erzählt,«immer weiter hinaus». Und die Menschen würden ihre Sachen am Strand finden …
Wenn ich abends Runden drehe, weicht Hund Lieschen nicht von meiner
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