Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
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Die Zeit der Pfennigabsätze, in der alle Fußböden ruiniert wurden.
Das war auch die Zeit der Spikes-Autoreifen. Symbole für die Einstellung, aus der heraus dann alles unkorrigierbar kaputtgemacht wurde. Das war die Zeit der zweiten Zerstörung unserer Städte.
Rostock Mi 7. August 1991, heiß
I952: Gründung der Gesellschaft für Sport und Technik
Qui tollis peccata mundi. Auch das wurde zerstört, die Katholiken gehen mit Schraubenschlüsseln daran.
Der Tag gestern fand durch das Konzert noch einen angenehmanregenden Abschluß. Ich lud die drei Musiker zum Essen ein. Die Gambistin hat mit Andreas Schroth zusammengelebt.
Er ließ seine Augen umherschweifen.
Heute früh muß ich zum Kulturminister der Stadt wegen der Gefängnistür, die ich gerne haben möchte, nachmittags zu Bielefeld. Abends ein Orgelkonzert in der Marienkirche.
Abends.
Ein wahnsinniger Tag.
Ich wachte nach sehr schlechter Nacht gegen 8 Uhr auf, frühstückte beschissen und machte mich dann auf den Weg, und zwar ging ich zuerst ins Klostermuseum, wo inzwischen ein neuer Chef eingesetzt worden ist, Herr Gläser, er kommt aus Lübeck. – Ich spielte sofort mit offenen Karten, offerierte also beide Archive plus aller K-Objekte. Nach anfänglicher Reserve erwärmte er sich zusehends und machte dann den Vorschlag, eines der Klosterhäuser als Kempowski-Archiv auszubauen. Er meinte sogar, daß das bis 1994 im April zu schaffen wäre. Wir besichtigten die Häuser, und ich war begeistert. Wir erhitzten uns im Gespräch und verschworen uns, die Sache durchzuführen.
Im vorderen Teil sollten Schaustücke stehen, die das bürgerliche Leben der Familie dokumentieren. Also die Schiffsmodelle, die Truhe, vielleicht die beiden K-Porträts, das Grässe-Bild, die Rostock-Bilder, die Bibliotheken (Rostock und Vater), die Tabaksdosen, die Bierflaschensammlung sowie ein Teil des Kinderspielzeugs, die Gefängnispuppenstube und das Papier-Rostock, das alte Kempowski-Gesangbuch.
Dahinter dann vielleicht das eigentliche K-Archiv, ebenfalls mit Schaustücken, also graphische Darstellungen der Bücher, Notizbücher usw. Die Gefängnispuppe, Karteikästen, mein Schreibtisch von oben und Schreibmaschine. Eine Plakatausstellung und alle Ausgaben meiner Bücher und Vitrinen mit Familienfotos und Ms.-Blättern.
Und die Gefängnistür.
In der dritten Abteilung müßten die Fotos aufbewahrt werden, auch hier könnten schönere Stücke gezeigt werden, und in der vierten Abteilung dann das Bio-Archiv.
Wir schaukelten uns aneinander hoch. Gläser war sehr begeistert, und ich auch. Sie hatten sich schon Gedanken gemacht, was mit den Häusern anzufangen sei. Ein Café wollen sie auf jeden Fall dort auch einrichten. Ich sagte ihm auch, daß ich z. B. in der Klosterkirche konfirmiert worden sei u. a.
Er will nach Hannover kommen und sich dort alles ansehen und von da aus nach Nartum.
Also, ich ging händereibend fort.
Bei Waack, dem Kulturmenschen, wurde die Türaffäre weiterverfolgt. Morgen soll ich zum Bauamt kommen, um 8 Uhr! Recht früh, für meine Verhältnisse. Es scheint so, als ob es klappt. Er rief Presseleute herbei, denen ich meine Absicht auseinandersetzte, hierherzukommen mit meinem Archiv. Sie guckten einigermaßen verwirrt in die Gegend. Kempowski? Nie gehört. Sie sollen sich einsetzen.
Dann ging ich zum Stadtarchiv – nachdem ich in der Unibibliothek erfahren mußte, daß sie dort den«Rostanz» 6 nicht haben – und sah dort die Zeitung nach Marksprüchen durch für mein«Echolot». Und fand auch allerlei. Es war interessant zu lesen, wie diese Zeitung sich nach den Goebbels’schen Direktiven gerichtet hat. Z. B. Görings 50. Geburtstag auf der ersten Seite, Rosenberg 50. auf der zweiten Seite.
Im Archiv lungerten fünf oder gar sieben Leute nahezu beschäftigungslos herum: So war das in SED-Zeiten wohl überall. Es darf in der DDR keine Arbeitslosen geben.
Saß dann noch etwas am Brunnen und freute mich an den Kindern und Hunden. Eine Taube sah ich, die ihren ganzen Kopf ins Wasser tauchte. – Die Glücksspieler waren wieder da. Unerträglich und widerlich. Man habe keine Handhabe gegen diese Leute. Nach 40 Jahren Diktatur haben sie nun die Samthandschuhe angezogen.
Dann hieß es sich beeilen: zu meinem Schulkameraden, der mich plus Frau und Schwiegermutter schon erwartete. Ich schwitzte und hatte erheblichen Kuchenhunger, da seit früh nichts gegessen. Nicht nett fand ich es, daß die
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