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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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ist.
     
    Hier sammelten sich damals die Menschenaufläufe.
    Hier standen sie zu Tausenden, die Bewegung kam aus ihnen heraus und wuchs, und die Kerzen stellten sie den Stasi-Leuten zwischen die Beine. Alles sehr groß, wenn nur hinterher die Gräsen nicht wären. Aber mir geht’s ja auch so, wenn ich an die Öffnung der Mauer denke. Sie haben die Nuß von innen geknackt, der Sproß drang wie ein Penis nach außen, und die Schale brach auseinander. Aber was folgt, ist eben keine Himmelfahrt, wie sollte es auch. Das streckt sich in die Luft, soweit es trägt, und ist natürlich den kosmischen Strahlen ausgesetzt. Zurück möchte es aber wohl doch nicht.
    Wenn ich heute zurückwill, dann ist das etwas anderes. Ich lege mich zu ihnen, weil es zu Ende ist. Sie wollen noch was, ich hab’s hinter mir. Die von IHM vorbereitete und gemeinte Lebenslogik. Das kann ich mit den Händen greifen.
     
    2007: Wer hätte sich das damals vorstellen können, daß Jahre danach in Berlin am Pariser Platz alles zusammengetragen werden würde? All die Voraussetzungen präsentiert, die mir den langen Weg zu gehen ermöglichten. Und wer hätte denken können, daß ich selbst diesem Tag, diesem großen, lebensabschließenden Ereignis, nicht beiwohnen kann? Der Bundespräsident bezeichnete mich als Volksschriftsteller, und ich bin nicht mal in der Lage, ihm handschriftlich zu antworten. So viele Menschen, denen auf einmal die Augen aufgehen. Und Rostock noch außerdem! Die fleißigen Archivare dort, die das«Bürgerliche Haus»in Ordnung halten, die Stadt, die sich meiner erinnert hat und mich im bürgerlichen Sinne hoch geehrt – wer hätte das gedacht? In dem Maße, wie dort nun auch die Marienkirche in Ordnung gebracht wird, habe ich meine Arbeit vollbracht, beendet! Und alle haben es sehen können.
     
    Ursel über mein Buch, vorwurfsvoll:«Ich habe gestern nacht gar nicht schlafen können, ich habe 80 Seiten gelesen …»«Das ist ja das Wunderbarste, was man sich als Autor wünschen kann.»
    «Was? Aber ich hätte ganz gern geschlafen, ich mußte heute ja wieder früh raus.»

Rostock Do 8. August 1991, bedeckt
     
    Das war vielleicht wieder ein Tag! Um 8 Uhr war ich bei einem Herrn Richter vom Bauamt, der mir wegen der Gefängnistür behilflich sein wollte, aber natürlich nur herumredete und mir schließlich quasi nahelegte, mich selbst darum zu kümmern. Auf dem Platz hinter dem Bauamt, der«verruchten Stelle», also dem alten St.-Jakobi-Standort, fand ich tatsächlich noch einen schönen gelben Klosterformatstein, den ich, unter einer Zeitung verborgen, ins Hotel schleppte.
    Dort wartete die Presse, die mich wegen meiner«Rückkehr»kontaktieren wollte, inzwischen wohlinformiert. Ich redete eine Stunde mit ihnen, ganz freundliche Leute, die mir dann auch prompt halfen. Heute abend erschien die«Morgenpost», und ziemlich sofort bekam ich Adressen von möblierten Zimmern: eine in Evershagen, die natürlich nicht in Frage kommt, eine im Reichsbahnerheim und eine in der Thomas-Mann-Straße, wahrlich eine würdige Adresse wäre das. Morgen erfahre ich Näheres.
    Nach ausgiebigem Frühstück ging ich zu einem Herrn, den ich für die Türaktion angeheuert hatte. Heute abend holen wir sie. (Er stemmte sie hoch, und siehe da, sie ließ sich ohne weiteres aus den Angeln heben.) – Dann montierten wir noch ein paar«Spione»ab, auch fürs Museum. Danach ging ich zur Nikolaikirche, um dort Quartier zu machen für eine Lesung, und sprach sehr lange mit dem freundlichen Pastor Kölpin, der mir versprach, mich nächstens aufzunehmen – sie haben oben auf dem Kirchenboden Fremdenzimmer, dann spare ich das teure Hotel und kann in der Stadt wohnen, bis ich eine feste Bleibe habe. Wir sprachen auch über den Jahrestag1993, eventuell könnte man die Nikolaikirche mit dem«Echolot»eröffnen?
    Ich schlenderte dann zurück zum Hotel, versuchte vergeblich, einen Platz in einem Restaurant zu ergattern. Viele Touristen sind in Rostock, weil Warnemünde ihnen heute wohl zu unwirtlich ist, außerdem trinken die Skandinavier hier Schnaps. Ich schlief dann etwas und ließ mich danach in die Kasernengegend fahren und fotografierte ein wenig. Die Gegend ist sehr heruntergekommen.
    Hier kaufte ich dann noch auf der Straße die Stasi-Liste, in der ich gleich auf Seite 1 einen Klassenkameraden fand. Im Krieg war er HJ-Führer! Er hatte eine sadistische Ader. Inzwischen ist er in Pension.
     
    Verwahrlost die ganze Gegend. Nun ja, sie hatten keine Farbe zum

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