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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Zwillingsschwester nicht gekommen war, obwohl wir doch verabredet waren. Über die Glücksspieler:«Die kommen alle von euch!»-«Von uns?»- Daß das Hinauskommen mit dem Hineinlassen zu tun hat, ging ihr nicht auf.
    «Mein Sohn ist ja nun auch arbeitslos!»(Auf deutsch: Da siehst du mal, wie es uns geht.)
    «Was ist er denn von Beruf?»
    «Elektriker.»
    «Na, die werden doch gesucht, da kriegt er doch bestimmt Arbeit …»
    «Ja, man hat ihm auch schon was angeboten. Aber er nimmt lieberdie Arbeitslosenunterstützung, die ist höher. Außerdem hat er 15 000 Abfindung gekriegt und (noch irgendwas), und die Frau auch. Da machen die jetzt erst mal Urlaub.»
    Tja, so ist das. Wenn man nachbohrt, und das tue ich auf meine freundliche Art und überall, dann kommt allerhand zutage. Die Klagen liegen obenauf, die muß man erst mal beiseiteschieben.
     
    Ja, es sei ja jetzt so unsicher! Das hätt’s früher nicht gegeben. Sie trauten sich abends nicht mehr aus dem Haus!
    Daß es einen Bezug geben könnte zu den Zeiten, in denen sistiert wurde auf Deubel komm raus, merkt sie natürlich nicht.
    Wir sahen dann Fotos an, und da stand eine Zeit auf, die schon ganz jenseitig ist. Grau klappt sie auf, aus dem Grab: 1945/46. Scheußliche Röstbrot-Zeit, pubertär hatte ich noch alles vor mir. Und nun schwappe ich zurück! – Die beiden Zwillinge jung und frisch auf den Fotos und manches Gesicht, damals unerreichbar.
     
    Sie erzählte dann noch von den Demonstrationen. Noch jetzt liefen ihr die Gräsen über den Buckel! Und man sah es, daß sie liefen, und sie verdrehte die Augen. Vor dem Stasi-Gebäude hätte die Menge dann angehalten, Parolen gerufen und in die Hände geklatscht.
    Wirklich haben es diese Leute, auch wenn sie im Dämmer leben, nicht leicht gehabt. Erst die Nazis, dann die Proletenwirtschaft und nun die Wessis.
     
    Wir sprachen auch über«Ossis»und«Wessis».
    Ich sagte:«Weder sehe ich mich als Wessi, noch seid ihr Ossis. Wir sind doch Rostocker, keine Typen. Der Ossi mit falschen Jeans und Aktenkoffer, der Wessi im Mercedes mit vom Autofahren deformiertem Körper – wo sind sie? Es sind – im Grunde liebevolle – Bezeichnungen für Oberflächlichkeiten.»
    Marienkirche.
    Jetzt spielt die Orgel gerade das«tapfere»«Christ unser Herr zum Jordan kam». Ich kenne es aus Bautzen.
    Das ist mein Stück, so getrost und freimütig. Auch«einfach». So möchte ich sein.
     
    Gläser sagte, Jugendliche hielten den Corpus am Kreuz für Spartakus.
    Jetzt spielt sie oben«Vater unser»von Mendelssohn. Das kann doch jemand, der den Choral nicht kennt, überhaupt nicht verstehen. – Wenn mich nicht alles täuscht, gibt es gleich eine Wiederbegegnung mit Heiller, den ich 1956 in Zürich hörte.
     
    Die arme Inge, das liebe Mädchen, sie war mir so vertraut, ein«Kumpel», jetzt hörte ich auch, wie sie 1976 zugrunde gegangen ist: An der Ferse beim Sonnenbaden eine kleine«Stelle»entdeckt, und weil sie sich das Bein nicht abnehmen lassen wollte, mußte sie sterben.
     
    «Ja», sagt Ursel,«und für Bärbel ist es auch nicht leicht, als Hygienikerin abgemeiert zu werden und in Pension.»
    «Wie alt jetzt?»
    «Nun, zweiundsechzig …»
     
    Ach, das Glück wallt in mir auf: Wenn’s mit dem Klosterhäuschen was wird. Ich werde meine Sachen zur Dauerleihgabe erklären, und dann kann später einmal, nach meinem Tode vielleicht, eine Rente für die Familie daraus sich ergeben. Die Sache ist mir so wichtig, daß ich sogar noch Geld dafür stiften würde.
     
    Messiaens«Apparition de l’église éternelle», oh, das strahlt auf, da kann der Organist mal richtig aufdrehen! Wundervoll, aber kein Garten der Gefühle, eher an den Zöllner Rousseau erinnernd. Die Würde des Menschen ist unantastbar? Groß machend, flüchtend. Das große Tor von Kiew im Morgenland. Ach, wenn’s doch so wäre. Er täuscht sich!
    Erst jetzt kehre ich ein, bin wieder da. Wo war ich all die Jahre?
     
    Die Pastorin im Eingang: Ich hätte doch sicher auch eine Beziehung zur Marienkirche? – Wollte sie mich foppen?
     
    Die Leute gucken wie gebannt zur Orgel hinauf, als ob man da was sehen könnte. So wie im TV Landschaft und heroisches Bauen und Unterwasser mit Musik unterlegt wird, so denken sie, müßte jetzt umgekehrt Heroisches erscheinen dort oben. Ach, es ist nur der Hinterkopf, der winzige Hinterkopf des winzigen Registranten, der dort von links nach rechts geht und in die Noten guckt und die Stöpsel zieht, wenn es an der Zeit

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