Somniferus
Seine Augen verloren ihre Schwärze und
begannen zu strahlen. Es ist bei jedem Bibliophilen dasselbe: Wenn er
jemand anderem seine Schätze zeigen kann, ist er der
glücklichste Mensch auf Erden. Der alte Mann sprang auf, lief
zielstrebig zu einer der vielen Vitrinen und holte ein in schwarzes
Leder gebundenes Buch heraus. Er schlug es mit den vorsichtigen,
zärtlichen Bewegungen eines Verliebten auf und reichte es mir,
wobei er neben meinem Sessel stehen blieb und darauf achtete, dass
ich den Band nicht etwa zu weit aufschlug oder die Seiten mit meinen
nichtswürdigen Fingern beschmutzte. Ich las kurz die Widmung,
die die beiden Künstler an ihren gemeinsamen Freund Robert Ross
geschrieben hatten, und wollte dann ein wenig in dem Buch
blättern und die wunderbaren Schwarzweiß-Illustrationen
Beardsleys im Original genießen, doch schon entwand mir Adolphi
das Buch mit der freundlichen Unnachgiebigkeit eines
Museumswächters, klappte es sanft zu und brachte es wieder
zurück in die Vitrine.
»Haben Sie noch mehr solcher Raritäten?«, fragte
ich vorsichtig.
Und ob! In der nächsten Stunde holte er Buch nach Buch aus
dem Bauch seiner Bibliothek: Eine Vorzugsausgabe der 120 Tage von
Sodom von de Sade, von der nur noch eine Handvoll Exemplare
bekannt seien, ein Widmungsexemplar von Kafkas Betrachtung, ein durchschossenes Exemplar des Werther mit Goethes
eigenhändigen Korrekturen, ein Fragment der Gutenberg-Bibel und
eines des Mainzer Psalters sowie viele andere unglaubliche
Kostbarkeiten mehr. Mir brummte schnell der Kopf und es lief mir
frostig über den Rücken. Die Erkältung hatte mich
unbarmherzig im Griff. Ich bemühte mich, nicht auf die mir
dargebotenen Seiten zu niesen, was bei Adolphi sicherlich zu einem
bibliomanischen Anfall geführt hätte. Die Buchstaben
tanzten vor meinen Augen. Immer neue Bücher wurden mir
vorgelegt, doch der Tanz war immer derselbe.
Und das Enchiridion Mythologicum war nicht darunter.
Einmal hielt Adolphi kurz inne und lauschte angestrengt.
»Haben Sie das auch gehört?«, fragte er mich. In seine
Augen war die unheimliche Schwärze zurückgekehrt, die mir
bereits an der Haustür aufgefallen war, und sein Gesicht war auf
einen Schlag wieder aschfahl geworden. Bevor ich etwas sagen konnte,
legte er den Finger vor die Lippen und lauschte wieder.
Schließlich flüsterte er: »Da. Da war es
wieder.« Er machte eine Pause, dann beugte er sich zu mir
herunter und wisperte: »Es kommt näher.«
Ich hatte nichts gehört.
Oder?
Da war ein Rauschen in meinen Ohren, das ich aber meiner grimmigen
Erkältung zuschrieb.
Ich bemühte mich, Adolphi abzulenken. Irgendwann musste er
doch endlich mit dem Enchiridion ankommen – wenn er mich
nicht vorher hinauswarf.
»Ihre Bibliothek ist wirklich ein Phänomen«, sagte
ich schnell. »Interessieren Sie sich auch für
Kulturgeschichte?«, setzte ich vorsichtig nach.
Natürlich; er interessierte sich für alles. Und nun
durfte ich von Werken über die Hexenverfolgungen kosten, von
denen etliche auch in meiner – in Onkel Jakobs – Bibliothek
standen, aber es waren überdies manche Raritäten darunter,
die Jakob nicht besessen hatte. Adolphi schien dies genau zu wissen,
denn diese Bücher präsentierte er mir mit einem
überlegenen Lächeln. Sicherlich hatten er und mein Onkel
genau gewusst, was sich in der Sammlung des anderen befand, und
genauso sicher hatten sie immer wieder versucht, den anderen zu
übertrumpfen. Jetzt schien es Adolphi erneut besser zu gehen; er
schwelgte im Triumph seiner unvergleichlichen Sammlung, an die Onkel
Jakobs Bibliothek wirklich nicht heranreichte.
Aber er weigerte sich standhaft, das Enchiridion auch nur
zu erwähnen.
Schließlich war meine Geduld am Ende. Ich saß nun seit
fast zwei Stunden hier mit triefender Nase, heißem Kopf und
Gliederschmerzen und war meinem Ziel noch keinen Schritt
nähergekommen. Ich versuchte es mit einem Frontalangriff.
»Sie besitzen nicht zufällig das Enchiridion
Mythologicum von Philipp Camerarius? Soweit ich weiß, soll
es auch von diesem Buch nur noch ein einziges Exemplar
geben.«
Bingo. Adolphi sah mich an wie jemand, der gerade erfährt,
was die Welt im Innersten zusammenhält. »Daher weht also
der Wind«, zischte er. In seinen schwarzen Augen mischten sich
Wut und – grenzenlose Angst. »Ihr werter Herr Onkel kann es
selbst im Tod nicht lassen…«
»Was kann er nicht lassen?«, wollte ich wissen.
»Scheren Sie sich aus meinem Haus und kommen Sie nie wieder
zurück!
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