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Somniferus

Somniferus

Titel: Somniferus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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recht
warm in der Bibliothek; trotz des Frühlings schien die Heizung
noch zu laufen – oder das Arbeiten des Holzes; auf alle
Fälle gab es eine einfache Erklärung dafür.
    Nicht aber für Friedrich Adolphi. Er schaute sich immer
wieder um, als seien alle Heerscharen der Hölle hinter ihm her.
Er stellte das Enchiridion zurück in die Vitrine und
sagte: »Sie müssen jetzt gehen.«
    Zögernd stand ich auf. »Darf ich wiederkommen?«,
fragte ich vorsichtig. Ich bemerkte, dass mir mein
schweißdurchtränktes Hemd am Rücken festklebte.
    »Nein.«
    Er zeigte zur Tür. Ich ging aus der Bibliothek und durch den
Flur. Er stürzte an mir vorbei und riss die Haustür auf.
Ich trat nach draußen.
    Trotz des schönen Frühlingswetters wehte heute ein
eisiger Wind. Hinter mir wurde die Tür laut ins Schloss
geworfen. Ich wankte die wenigen Stufen hinunter und stand endlich
wieder auf der Dauner Straße.
    All meine Hoffnungen waren dahin.
     
    * * *
     
    In Onkel Jakobs Haus legte ich mich sofort ins Bett und wie nicht
anders zu erwarten war, hatte ich wilde Fieberträume. Es begann
damit, dass Onkel Jakob mich ausschimpfte, weil ich versagt hatte.
Das Schicksal der ganzen Welt hänge davon ab, dass ich das Buch
bekäme, sagte er mit merkwürdig gedämpfter Stimme; es
klang, als spreche er durch Wasser. »Ja«, sagte er,
»das ist das Wasser des Lebens.« Und er lachte glucksend.
»Die Götter dürsten.«
    » Anatole France«, sagte ich, »ein guter
Roman.«
    »Und ein noch besserer Titel«, antwortete er. Dann
befand ich mich in einem riesigen Raum, von dem ich irgendwie wusste,
dass er unter der Erde lag. In der Mitte des wie ein Kirchenschiff
gewölbten Raumes stand ein roher Altar und auf diesem lag das Enchiridion. Ich versuchte es an mich zu nehmen, aber da wuchs
aus dem Stein des Altars die verzerrte Gestalt Friedrich Adolphis
hervor, die mit unmöglich langen und spitzen Klauen nach mir
schlug und das Buch verteidigte. Doch plötzlich erstarrte die
Gestalt. Aus den Tiefen des kirchenartigen Raumes ertönte ein
Poltern wie von etwas Mächtigem, das näher kam. Dann
erwachte ich.
    Ich war nass geschwitzt. Angeekelt stand ich auf. Aber wenigstens
fühlte ich mich jetzt etwas besser. Es war, als hätte ich
die Erkältung ausgeschwitzt. Ich hatte mehr als sechzehn Stunden
geschlafen.
    Ich duschte mich, zog mich an und ging hinunter in die Küche.
Gestern hatte ich vergessen einzukaufen und heute war Sonntag. Der
Kühlschrank gähnte mich an. Er war genauso leer wie mein
Magen.
    Es war noch dunkel draußen; die laut tickende Küchenuhr
zeigte Viertel nach fünf. Zu früh für alles.
    Ich fand noch eine einzige Scheibe Brot und trank dazu ein Glas
Leitungswasser – eine Speisenzusammenstellung, die mir seit
langem vertraut war. Nun, es würde wohl dabei bleiben, denn ich
durfte mir keine Hoffnungen mehr machen, an das Enchiridion heranzukommen. Damit waren auch das Haus und die halbe Million
verloren. Was für eine Ungerechtigkeit!
    Konnte Adolphi denn nicht auf ein einziges seiner Bücher
verzichten? Außerdem hatte er offenbar Angst vor diesem
unscheinbaren Band. Was wäre einfacher für ihn, als das Enchiridion zu verkaufen? An mich zum Beispiel. Aber er hatte
unmissverständlich klargemacht, dass das für ihn nicht in
Frage kam. Verflucht sei er! Ich biss so wütend in das Brot, als
sei es ein Stück aus Adolphis Lende.
    Den ganzen Tag grübelte ich angestrengt. Mittags fühlte
ich mich wieder stark genug, um hinauszugehen. Ich gönnte mir
von der großzügigen Geldspende Harders einen
Wildschweinbraten in den Bauernstuben; danach machte ich einen
Spaziergang durch den Ort. Heute war es etwas wärmer als gestern
und die Sonne wurde nur selten von kleinen Schönwetterwolken
verdeckt. Ich begegnete dem Ehepaar Eckfeld von gegenüber, das
offenbar zu einem Besuch unterwegs war, und wir wechselten ein paar
Worte. Sie fragten mich, ob ich mich bereits gut eingelebt
hätte. Ich antwortete einsilbig, denn mein ganzes Denken war
noch immer darauf konzentriert, wie ich an das Buch kommen konnte.
Ich verabschiedete mich von ihnen und sah ihnen nach, wie sie mit
ihrem großen Blumenstrauß um die Straßenecke bogen.
Wie schön könnte es hier sein, dachte ich. Zwischen mir und
dem Paradies lag nur ein einziges unscheinbares Buch.
    Zumindest glaubte ich das.
    Zuerst erschreckte mich die Entscheidung, zu der ich mich auf
meiner nachmittäglichen Wanderung durch den Wald endlich
durchringen konnte. Ich hatte noch nie eine Straftat

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