Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Somniferus

Somniferus

Titel: Somniferus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
Vom Netzwerk:
Er
würde mich sofort entdecken. Stocksteif blieb ich stehen,
während die Schritte jetzt nicht mehr über mir, sondern
irgendwo vor mir ertönten. Der Lichtschlitz wurde in der Mitte
verdunkelt. Jemand stand vor der Kellertür. Ich spürte, wie
mir kalter Schweiß am Rücken hinunterlief und mein Hemd
mit der Haut verklebte. Meine Hände zitterten.
    Dann war der leuchtende Spalt wieder in seiner ganzen Länge
zu sehen und kurz darauf verlosch er. Ich atmete auf. Gerettet! Ich
hörte die Tritte nun erneut über mir. Sie liefen im Kreis,
hielten an, liefen weiter.
    Dann hörte ich noch ein anderes Geräusch.
    Ein Klopfen, ein unendlich weit entferntes Stampfen, als habe sich
irgendwo etwas Schweres in Bewegung gesetzt. Die Schritte über
mir wurden schneller, erstarben. Dann ein viel lauteres,
grässliches Klopfen, als werde oben etwas mit großer Wucht
gegen die Wand geschlagen, immer wieder.
    Und die Schreie!
    Adolphis Schreie.
    Mir stockte der Atem. Mein Puls raste. Verdammt, was war da oben
los? Solche Schreie hatte ich noch nie gehört. Sie klangen wie
die eines Wahnsinnigen, der sich der entsetzlichsten Schreckgestalt
seiner abnormen Fantasie gegenübersieht.
    Dann plötzlich war alles still.
    Diese Stille war noch furchtbarer als der grauenvolle Lärm,
der ihr vorausgegangen war. Sie kroch als eisiger Hauch durch das
Haus, sickerte unter der Kellertür durch und floss wie
novemberlicher Bodennebel über die Treppe. Sie drang mir unter
die Kleider, die Stille, unter die Haut, bis in die Knochen, bis in
mein Denken. So still musste es sein, wenn Gott den Atem
anhält.
    Ich weiß nicht mehr, wie lange ich reglos in dem dunklen
Keller stand. Es dauerte lange, bis ich wieder zu mir kam und
bemerkte, dass ich zitterte. Mein erster Gedanke war, aus dem
Kellerfenster zu klettern und zu verschwinden. Ich wollte nicht
wissen, was da oben geschehen war.
    Aber das Buch? Sollte ich nicht wenigstens einen Blick wagen?
Vielleicht hatte Adolphi ja nur einen schrecklichen Albtraum gehabt
und war nun wieder eingeschlafen. Vielleicht konnte ich das Buch an
mich nehmen – ohne die geringste Befürchtung. Waren es eine
halbe Million Euro und ein Haus nicht wert, dass ich einen Versuch
wagte? Vielleicht bildete ich mir ja auch nur ein, die Schreie
gehört zu haben. Ich rieb mir den kalten Schweiß aus dem
Gesicht und ging zur Treppe.
    Vorsichtig stieg ich die knarrenden Holzstufen hoch; nach jeder
Stufe machte ich eine Pause und horchte. Alles blieb still.
    Endlich hatte ich die Kellertür erreicht. Ich tastete nach
der Klinke, fand sie schließlich und drückte sie
hinunter.
    Nichts. Die Tür ließ sich nicht bewegen. War sie etwa
abgeschlossen?
    Ich tastete ihren Rand ab. Keine Angeln. Also ging die Tür
nach außen auf – in das Haus hinein. Ich drückte
gegen sie. Sie ächzte widerwillig. Bewegte sich nicht. Noch
einmal den Atem angehalten und gelauscht. Immer noch Stille. Dann mit
der Schulter gegen die Tür. Sie gab etwas nach, war nicht
verschlossen, sondern nur verzogen. Ich stemmte mich mit meinem
ganzen Gewicht gegen sie und endlich schwang sie auf. Ich stand in
der dunklen Diele, die ich bereits am vergangenen Tag durchquert
hatte.
    Konnte ich es wagen, das Licht anzuschalten? Wo befand sich das
Schlafzimmer des Hausherrn? Nein, es war zu riskant. Ich blieb eine
Weile stehen und versuchte mich daran zu erinnern, wo die Bibliothek
lag. Hatte ich nicht von links die Diele betreten, als Adolphi mich
gestern geradezu hinausgeworfen hatte? Ich war mir beinahe sicher.
Also musste die Tür zum Raum meiner Wünsche und Träume
von meiner augenblicklichen Position aus an der rechten Seite der
Diele liegen. Ich ging behutsam einige Schritte in das Haus hinein,
weg von der Eingangstür, deren Bleiverglasung nur wenig Licht
von der fernen Straßenbeleuchtung hereinließ. Dann kniff
ich die Augen zusammen und erkannte die Tür.
    Es musste die richtige sein. Ich öffnete sie. Sie verursachte
keinen Laut. Schnell schlüpfte ich in das Zimmer und schloss die
Tür wieder hinter mir. Jetzt erst wagte ich, nach einem
Lichtschalter zu suchen. Ich fand ihn rasch rechts neben dem
Türrahmen, kurz vor dem ersten Stollen der Regale. Es machte ein
klackendes Geräusch, als die Jugendstillampe an der Decke anging
und ihr grünes und gelbes Licht in den bücherstarrenden
Raum warf.
    Da sah ich, dass ich nicht allein war.
    Friedrich Adolphi lag vor seinen geliebten Büchern; unter
seinem Kopf hatte sich eine Blutlache gebildet. Und Blut klebte

Weitere Kostenlose Bücher