Somniferus
gewesen; dieses
Gemäuer hatte mich immer mit einem gewissen Unbehagen
erfüllt; ich hatte mir jedes Mal, wenn ich es betreten musste,
vorgestellt, es würde mich in einem seiner Gänge einfangen
und verdauen, um mich dann zusammenzupressen, zu verleimen und in
eines seiner Regale zu stellen.
Wir betraten den muffig riechenden Lesesaal, gingen über
grünen Filz, vorbei an der Bücherausgabe und stiegen eine
breite Treppe hoch in den ersten Stock. Auf einigen Stufen standen
Putzeimer; der Filz um sie herum war aufgeweicht.
Ich schaute unwillkürlich hoch. In der Decke waren viele
weiße Kränze und Ränder. Der Beton war bereits
undicht geworden.
Ein großer, unübersichtlicher Saal, Bücherregale,
brummende Neonröhren, kaltes Licht in einem kalten Raum. Der
Katalogsaal. Lisa wusste, wo sie suchen musste. Bald standen wir vor
einer Reihe grüner Leinenbände. »Das ist es«,
sagte sie. »Es riecht hier noch genau wie damals.«
Nach Bohnerwachs, Staub, Schimmel, Klebstoff, erwärmt und
wieder erkaltet. Nach vergrabenem Wissen, verfault, zu
zusammenhanglosen Buchstaben geronnen. Sie nahm das letzte,
druckfrisch aussehende Buch der Reihe aus dem Regal und schlug im
hinteren Teil nach. »Die Manuskripte sind im Anhang
verzeichnet«, erklärte sie. »Sie sind alphabetisch
nach Autoren geordnet. Nimm dir den nächst älteren
Band.«
Ich griff das Buch aus dem Regal. Es wirkte, als ob es noch nie
benutzt worden wäre; es roch sogar noch neu. In der
Handschriftensektion war nichts von Ausonius verzeichnet. Auch Lisa
hatte in ihrem Band nichts gefunden. Also arbeiteten wir uns weiter
in die Vergangenheit hinein.
Plötzlich raschelte etwas vor mir auf der anderen Seite des
Regals, an dem wir standen. Ich schaute auf – und sah einen
Schatten dort zwischen den Büchern. Der Auktionskatalog fiel mir
aus der Hand.
Lisa schaute mich erstaunt von der Seite her an. Ich murmelte eine
Entschuldigung, die an niemand bestimmtes gerichtet war, und hob das
Buch auf. Dabei ließ ich den Schatten auf der anderen Seite
nicht aus den Augen.
Er wich zurück. Es war, als gleite er fort. Vollkommen
lautlos. Und dann, als er fort war, kamen die Schritte. Die
mächtigen, hallenden Schritte.
»Hörst du das?«, flüsterte ich Lisa aufgeregt
zu und packte sie dabei am Arm.
Sie lauschte. »Diese Schritte?«
»Ja.«
»Was ist damit?«
»Sie sind so – seltsam.«
»Was soll daran seltsam sein?«, fragte sie und sah mich
mit großen Augen an. »Da ist jemand draußen im
Treppenhaus – wohl jemand mit einem Gewichtsproblem.« Die
Schritte verhallten.
Schweigen, Stille.
Ich klappte das Buch zu, stellte es zurück und nahm das
nächste. Keine Eintragung eines Ausonius-Mauskriptes. Jetzt
waren wir bei den sechziger Jahren angelangt. Unsere Hoffnung
sank.
Schritte aus dem Treppenhaus? Diese Erklärung stieg wieder in
mir hoch. Wie konnte das sein? Das Treppenhaus war doch mit Filz
ausgelegt. Von dort konnten keine Schritte hallen!
»Hier!« Lisa hielt mir aufgeregt ihren Band unter die
Nase und schnitt damit meine Gedanken ab. »Lies!«
Es war die Aufnahme eines Mosella- Manuskriptes von
Ausonius aus dem 12. Jahrhundert! Und es stand sogar ein
Provenienzvermerk dabei: Aus der Kl.B. Steinfeld. Sie war
damals für stolze 21.000 D-Mark zugeschlagen worden.
Natürlich stand nicht dabei, an wen der Zuschlag erfolgt
war.
»Was bringt uns das eigentlich? Wir wissen doch immer noch
nicht, wer jetzt das Buch hat«, bemerkte ich.
»Das stimmt«, sagte Lisa und sah mich mit vor Aufregung
blitzenden Augen an. »Aber wir wissen, wo die Handschrift
versteigert wurde; das ergibt sich aus dem Kürzel hinter der
Beschreibung. Es war das Auktionshaus Jäger.«
»Und wo befindet sich dieses Auktionshaus?«
»Hier in Köln«, sagte Lisa triumphierend und
lächelte mich an.
Mein Herz schlug schneller. »Aber«, gab ich zu bedenken,
»das hilft uns trotzdem nicht weiter. Selbst wenn man uns bei
Jäger verraten wollte, wer der Käufer war, heißt das
noch lange nicht, dass dieser Käufer uns einen Blick in seine
wertvolle Handschrift werfen lässt. Außerdem kann es
durchaus sein, dass er das Buch nicht mehr hat; der Kauf liegt
schließlich fast vierzig Jahre zurück. Vielleicht ist er
schon tot.«
Lisa seufzte ungeduldig. »Was bist du nur für ein
Mensch, Ralf Weiler!«, seufzte sie. »Immer wenn du einen
Teilerfolg errungen hast, suchst du nach dem Haar in der Suppe –
und findest gleich eine ganze Perücke. Es wundert mich nicht,
dass du mit
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