Somniferus
den Strohhalm gesogen hatte.
»Meine Tante wohnt in Burscheid; das ist nicht weit von hier.
Ich habe sie zwar schon lange nicht mehr besucht, aber eigentlich war
sie immer sehr hilfsbereit – wenn auch etwas verschroben. Sie
würde uns zumindest auf keinen Fall bei der Polizei
anzeigen.«
»Das wäre doch einen Versuch wert«, meinte ich
hoffnungsvoll.
Lisa stand auf. »Komm, wir fahren sofort hin.« Sie nahm
ihr Tablett und ich das meine; wir stellten die kümmerlichen
Reste unseres kümmerlichen Mahles auf eine Ablage und gingen
nach draußen. Inzwischen hatte sich auch hier der Himmel
verfinstert, aber es regnete zum Glück noch nicht.
Wir fuhren mit der Straßenbahn zurück bis zur
Haltestelle Weyertal, in deren Nähe der Lancia stand. Wir
gingen das Weyertal entlang und bogen nach rechts auf den
De-Noel-Platz ein. Von hier aus sahen wir von weitem bereits den
kleinen Wagen.
Und nicht nur ihn.
Auch einen Polizeiwagen. Zwei Polizisten standen neben dem Lancia
und spähten angestrengt durch dessen Scheiben.
Damit war uns der Fluchtweg zu Lisas Tante abgeschnitten. Wir
machten auf dem Absatz kehrt, gingen schnell, aber nicht zu schnell
zurück zur Haltestelle und hatten Glück. Wir erwischten
gerade noch eine 7 in Richtung Innenstadt. Je tiefer wir uns im
Gewühl vergruben, desto besser. Als wir in der Bahn saßen,
sahen wir, wie der Polizeiwagen langsam aus dem Weyertal herauskam
und in die Zülpicher Straße einbog. Er fuhr hinter der
Straßenbahn her und überholte sie kurz vor einer Ampel.
Die Polizisten warfen nicht einmal einen Blick in das Innere der
Bahn.
Lange streiften wir ziellos in der Innenstadt umher, aßen
eine Kleinigkeit in einem Schnellrestaurant und kauften uns
schließlich von meinem Geld Kino-Karten für die Lange
Filmnacht im Ufa-Palast am Ring. Die Filme, die gezeigt wurden,
waren uns völlig gleichgültig – es ging nur darum, ein
paar Stunden im Trockenen zu sitzen und in Kinosesseln halbwegs
gemütlich zu schlafen. Wesentlich ungemütlicher war da
schon die Parkbank am Aachener Weiher, auf der wir uns gegen halb
drei einfanden. Ich musste immerzu an diese Gottheit denken; es war
beinahe wie ein Zwang. Dieses Haupt in den Wolken… Ich sagte es
Lisa.
Sie meinte müde: »Du benimmst dich wie mein Vater, kurz
bevor er…« Sie verstummte und sah mich an.
Ich schaute weg und hatte das Gefühl, als zerre etwas an
meinem Innersten. Und irgendwo dröhnten Schritte –
ungeheure Schritte, ungeheures Dröhnen. Ich hielt den Atem an.
Dann war es vorbei. Eine große Ruhe floss in mich.
Lisa lehnte sich an meine Schulter und schlief die letzten Stunden
bis zum Morgen, in denen ich sie festhielt und halb dösend, halb
wachend das Gefühl genoss, für sie da sein zu können
– wenn auch nur als Behelfsstütze.
16. Kapitel
Kurz vor zehn standen wir vor dem kleinen Laden in der
Cäcilienstraße unweit vom Neumarkt. Noch war das
Rollgitter heruntergelassen und die dahinter sichtbaren spiegelnden
Scheiben verspotteten unsere ungepflegten Gestalten. Wir hatten uns
notdürftig gegenseitig mit den Händen gekämmt, aber
zumindest in meinem Fall sah das Ergebnis nicht sonderlich ermutigend
aus. Ich fühlte mich, als habe man mein Gehirn gegen Watte
ausgetauscht. Klare Gedanken waren etwas, das der Vergangenheit
angehörte. Der fernen Vergangenheit, die wir suchten…
Endlich rasselte das Gitter nach oben; ein hoch gewachsener Mann
in einem braunen Anzug tauchte hinter der Tür auf und
entriegelte sie geräuschvoll. Dabei warf er uns einen kurzen
Blick zu, sah wie durch uns hindurch, wandte sich wieder ab und
verschwand in den Tiefen des dunklen Ladens.
»Sollen wir wirklich…?«, fragte ich unsicher.
»Na klar! Sonst haben wir uns die Nacht umsonst um die Ohren
geschlagen«, sagte Lisa, zerrte an ihrer Jacke und übte ein
Lächeln. Dann drückte sie die Ladentür auf. Mir blieb
nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
Der Herr in dem braunen Anzug kam schnell zurück, hatte
bereits vorsorglich ein nettes Lächeln aufgesetzt, das aber
sofort verschwand, als er sah, wer da seinen schönen Laden
betreten hatte. Er schaute uns an, als ob wir zwei besonders
stattliche Ratten wären.
Lisa ergriff die Flucht nach vorn: »Bitte entschuldigen Sie
unser Aussehen, das von Umständen herrührt, die zu
ändern leider nicht mehr in unserer Macht stand.«
Der Auktionator hob eine Augenbraue und konnte sich angesichts
dieser gesetzten Rede ein Grinsen nicht verkneifen. »Womit kann
ich Ihnen
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