Sonder-Edition - drei Romane (Das Mondgeheimnis, Die Gestoßenen, Den Teufel am Hals) (German Edition)
Stoffküken.
Ondrej lebte! Eine Träne rann heiß ihre Wange hinab. Wie gern wäre sie bei ihm, würde ihm zuhören und sich von ihm berühren lassen. Sie streichelte das Bild. Es entflammte zu einem gleißenden Licht. Funken rieselten zu Boden, dann war nichts mehr davon übrig.
Wie ein Leben mit Ondrej ausgesehen hätte? Die Gedanken hinderten sie daran, vom Diesseits loszulassen. Es war Neugierde und – Liebe. Ja, Liebe war es, was sie fühlte.
So entschlossen sie zuvor marschiert war, so zögerlich ging sie jetzt.
Nach endlos langer Zeit trat sie auf ein Steinplateau. Sie schaute auf ihre Füße, auf die Mokassins, die völlig sauber waren, als wäre sie nie durch Schlamm gewatet.
»Ich grüße dich.«
Sie blickte erschrocken auf. Eine Gestalt stand vor ihr, in einem Mantel. Der Kopf war geneigt und die Kapuze so tief in das Gesicht gezogen, dass Alena nur ein knochiges Kinn erkennen konnte. Die Gestalt hatte eine Lanze gegen die Seite geklemmt, an den Ärmel¬rändern wucherten Schimmelflecken.
»Erbarme dich unser.«
»Vergib uns unsere Schuld.«
Woher kamen die Stimmen? Alena blickte seitlich an der Gestalt vorbei und sah einen Waggon mit einem Holzbalkenaufsatz, der einem hölzernen, viereckigen Käfig ähnelte. Vier Leute waren darin gefangen. Wie Alena trugen sie Umhänge aus Leinen und sie umklammerten die Balken. Alena trat einen Schritt zurück, sie wollte umkehren.
»Hab keine Angst!« Das war wieder die Stimme der Gestalt, so hell und klar, mit Singsang. Sie sog die Luft tief in sich ein und blies Alena glitzernden Atem entgegen. Ein betörender Jasmingeruch berieselte ihren Umhang.
»Das wird sie von dir fernhalten«, sagte die Gestalt.
Wer ist mit »sie« gemeint, wollte Alena wissen, doch der Wächter gab keine Antwort. Er deutete mit der Lanze auf den Waggon, schon fand sich Alena darin gefangen, einen Balken umklammernd.
Weitere Waggons waren an den ihren gekoppelt. Wie viele es waren, konnte sie nicht erkennen. In jedem Waggon umklammerten die Leute die Balken. Der kühle Wind frischte auf und der Mann rechts von ihr schnappte nach Luft, ging dann in die Knie. Ein Stahlseil war um seinen Hals gewickelt, zwischen den Zehen schlängelte sich ein Regenwurm. Alena machte einen Schweißfleck an seinem Umhang aus. Kein Jasmin-geruch – er stank.
Die Frau daneben stellte sich auf die Zehenspitzen, streckte sich. An ihrem Ohrring baumelte ein Pentagramm. Als sie den Kopf in den Nacken legte, sah Alena, dass der Frau die Schädeldecke zertrümmert worden war.
Alena wandte sich um, sie fror. Der Mann auf der anderen Seite erinnerte mit seinem breiten Kreuz und den Muskeln an Vlado. Er war so groß, dass er mit der Stirn den Dachbalken antippen könnte, würde er sich auf die Zehenspitzen stellen. Der Mann neben Alena hatte seinen Kopf weggedreht, als würde er sich schämen. Sein Nacken schimmerte bläulich. Ertrunken? Er hatte irgendetwas Vertrautes an sich, und als er sich zu ihr umschaute, erkannte sie ihn.
»Papa«, juchzte sie. »Papa!«
Zwei Falten gruben sich über seine Wangen, Salzspuren schimmerten an den Rändern, und Alena wusste, dass es Tränen waren, die in all den Jahren diese beiden Furchen in sein Gesicht geschlagen hatten. Sein Unterkiefer zitterte, als er sie erblickte, dann lächelte er das Lächeln, das längst seine Augen erreicht hatte.
Alena hüpfte zu ihm, umschlang seinen Bauch und rieb ihren Kopf gegen seine Seite.
»Papa! Du hast mir gefehlt!«
»Du mir auch, Liebes, du mir auch«, flüsterte er, ohne den Mund zu bewegen. »Halt dich fest an mir.«
Ein Ruck, und die Waggons wurden in Fahrt gesetzt, schickten sich zur Eile an. Wohin die Reise auch gehen würde, Alena fühlte sich bei ihrem Papa in Sicherheit. Der Wächter auf dem Steinplateau wurde immer kleiner, bis er schließlich nicht mehr zu sehen war. Die Asche neben den Gleisen wirbelte auf, und mit einem Mal fühlte sich der Fahrtwind wie der Hitzehauch aus einem Glutofen an.
Alena sah zu Papa hoch, er hatte die Augen weit aufgerissen, sah sich fiebrig um. Er schnaufte aufgeregt, an seinem Arm schimmerte der Schweiß. »Egal, was passiert, halt dich fest und sieh nicht hin.«
Der Mann mit dem Stahlseil um den Hals krallte sich am Balken fest, Tränenrinnsale an seinen Wangen, Heulkrämpfe schüttelten ihn. Die Frau daneben kniff die Augen zusammen, lautstark flehte sie Gott um Vergebung an.
»Kommt nur, ihr Teufel, kommt nur«, brüllte der Tätowierte und streckte eine Faust
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