Songkran
nachsagen lassen, etwas versäumt zu haben. Seit 48 Stunden klapperte sie NGOs in Bangkok ab. Deren Anzahl ging in die Hunderte. Ihre Internetsuche im Vorfeld ergab zwei Dutzend Treffer, die die Rechte von Frauen und Kinder in den Fokus der Arbeit stellten.
Den Anfang machte Noi mit einer kleinen Organisation, deren Büroräume in Bangkoknoi auf der Thonburiseite lagen. Die engagierten jungen Thais, die dort ihre Freizeit opferten, hatten sich dem Kampf gegen die Kinderprostitution verschworen. Dort, wie später, hatte Noi immer die gleiche verneinende Antworte zu dem Allerweltsgesicht auf dem Phantombild bekommen. Bei allen Gesprächen war sie sich niemals sicher gewesen, ob sie der Wahrheit oder einer Lüge aufsaß. Der Parkplatzwächter vom Nana-Hotel hatte sich vage erinnert, dass die Größe des Unbekannten um die 1,70 Meter war. Zum Allerweltsgesicht kam eine Allerweltsgröße.
Jetzt saß Noi der alten Dame mit den mittellangen Haaren gegenüber. In der bunten Welt der NGOs war sie eine Legende. Diplome und Ehrendoktorwürden namhafter US-Hochschulen, von Harvard bis MIT, zierten die Wände des kleinen Büros. Die bezaubernde Villa aus Teakholz war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut worden. Ein schmaler Pfad, der durch einen tropisch-dichten Garten führte, leitete den Besucher zum Eingang des zweistöckigen Hauses. Hier, in diesem kolonialen Ambiente im Stadtteil Silom, nicht weit von Lumphini entfernt, endete Nois Informationstour durch den Dschungel des sozialen Engagements. Noi wusste, dass sie nur einen Bruchteil der registrierten Organisationen kennengelernt hatte. Die Ausländischen und die Informellen hatte sie nicht einmal gestreift.
Tief beeindruckt bestaunte Noi ein Foto, das die alte Dame gemeinsam mit Jimmy Carter und Nelson Mandela zeigte. Die Aufnahme musste ca. 10 Jahre alt sein. Der deutsche Nachname Kaufmann erklärte sich durch eine Heirat mit einem Hamburger Journalisten, der sein halbes Leben für die Zeitschrift Far Eastern Economic Review in Hongkong gearbeitet hatte. Nach dem Tod ihres Ehemannes tauschte sie die akademische Karriere gegen die Leitung einer Organisation, die sich für Frauenrechte in Thailand einsetzte. Den Schritt vom Elfenbeinturm der Universität ins pralle Leben bereute sie nie.
Nois Respekt vor der Lebensleistung ihrer Gesprächspartnerin hatte die Unsicherheit in ihr vergrößert. Das fiel auch der alten Dame auf. Aus einer Glaskaraffe schenkte sie ihrem Gast ein Glas kalten Früchtetee ein. Dann stellte sie die Frage: „Was hat dieser Mann auf dem Bild verbrochen? Oder hat Ihnen Inspektor Gun verboten, darüber zu sprechen?“
Niemand in den letzten zwei Tagen hatte sich nach dem Sinn ihres Auftrages erkundigt. Warum? Vielleicht wirkte die offizielle Funktion als Polizistin einschüchternd. Aber warum war es bei der alten Dame anders? Und wieso kannte sie ihren Chef?
„Sie kennen Inspektor Gun?“, fragte Noi.
„Ja, seitdem er Lumphini leitet, so ca. fünf Jahre. Wir haben in den letzten Jahren oft zusammen gearbeitet. Er hilft uns, wir helfen ihm.“
Davon hatte Gun ihr nie erzählt. Noi arbeitete jetzt ein Jahr in Guns Revier. Es war ihre erste Anstellung im Polizeidienst, nach der Ausbildung in der Polizeischule. In einem Skandinavischen Restaurant in der Sukhumvit 22 hatte sie vor ihrer Ausbildung als Kellnerin ausgeholfen. Die Bezahlung war marktüblich schlecht, die Kolleginnen dagegen nett gewesen. Am Ende beherrschte Noi den Dartpfeil besser als der dortige Lokalmatador aus Chicago. Ihr gutes Auge und ihre ruhige Hand verblüfften später auch den Polizeiausbilder an der Waffe.
„Können Sie mir etwas über ihre Arbeit erzählen?“, fragte Noi. Vor allem die Beteiligung Guns interessierte sie.
„Natürlich. Wir arbeiten auf zwei Ebenen. Auf der unteren Ebene versuchen wir zum Beispiel, Prostituierten, egal welchen Geschlechts, den Ausstieg aus dem Milieu zu ermöglichen. Wir beraten, vermitteln Jobs oder Lehrstellen. Wir unterhalten Frauenhäuser, in denen Frauen Unterschlupf und Schutz finden. Wir klären auf über Krankheiten wie HIV, verteilen Flyer in den Bars und Massagestudios, verteilen Kondome, und, und, und.“
Die alte Dame machte eine Pause und schenkte Noi ein Glas Tee nach.
„Und Inspektor Gun?“
„Ja, Ihr Chef garantiert meinen Streetworkern den Schutz im Revier. Dank ihm können wir unbehelligt in Nana Plaza und Umgebung unserer Arbeit nachgehen. Gibt es Ärger mit den Bossen dort, genügt ein Anruf bei Gun und
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