Sonne, Schnee und Tote
gegenüber meinen Nachbarn verhalten
und das habe ich nicht.“ Ihr Gesicht und die halb verdeckten Ohren gewannen,
während sie das sagte, deutlich an Farbe.
Sie
schien einigermaßen zufrieden, aber für Kees klang diese Antwort zu dünn,
außerdem fand er gerade – wieso auch immer - Gefallen daran, die bislang sehr
tough auftretende Frau straucheln zu sehen.
„Aber
wenn es das nicht wahr ist, wieso haben Sie dann niemanden alarmiert? Abusif
ist seit letztem Samstag verschwunden und Sie haben mir erzählt, dass Sie ihn
freitags zuletzt gesehen haben. Wie würden Sie es nennen, wenn nicht
Gleichgültigkeit?“, hakte er - einer inneren Eingebung folgend - nach.
Vermutlich
war es Niandees Glück, dass Mike der Barkeeper endlich das Bier brachte und ihr
damit Gelegenheit gab, zuerst einen Schluck zu trinken, bevor sie auf
Bloembergs Provokation ansprang. So fiel ihre Verteidigung weniger harsch aus,
als von Kees vermutet.
„Stress,
Bloemberg“, sagte sie. „Ich hatte einfach zu viel Stress. Ich weiß nicht, ob
Sie es mitbekommen haben, aber am vergangenen Freitag hat der Prozess gegen
Liam Sleghts begonnen. Der Mann, der in den vergangenen Jahren vier Banken im
Großraum Rotterdam ausgeraubt hat und auf der Flucht nach seinem letzten
Raubzug mehrere Menschen teilweise schwer verletzt hat.“
„Ist
mir bekannt“, brummte Kees und nippte an seinem Wasser.
„Habe
zusammen mit drei Kollegen seine Flucht gestoppt. Leider unter
Schusswaffengebrauch. Das ist mittlerweile Monate her. Zuletzt habe ich gehört,
wegen seiner schweren Verletzungen und bleibenden Schäden, die Anklage würde
fallen gelassen, aber die Justiz sorgt eben für Gerechtigkeit.“
„Machen
Sie Witze? Der Mann ist halbseitig gelähmt und kann kaum noch sprechen. Können
Sie sich in etwa vorstellen, wie groß der mediale Andrang an diesem Wochenende
war?“
„Ich
denke schon, zumindest hat sich deshalb kaum einer für den Mord am
Wilhelmina-Pier interessiert.“
„Wie
auch immer! Ich steckte jedenfalls im Stress und deshalb konnte ich mich nicht
kümmern, nicht an diesem Wochenende und auch montags nicht. Montags ist in der
Redaktion immer die Hölle los. Ich bin an dem Tag nur kurz zwischendurch zu
Hause gewesen. Habe ganz schön eins auf den Deckel bekommen, weil ich mich
durch die Geschichte mit Aiche um Stunden verspätet habe ...“
„Wie
geht es ihr?“ fragte Bloemberg unvermittelt und brachte Niandee damit endgültig
aus dem Konzept. Sie starrte ihn an.
„Wie
geht es wem?
„Abusifs
Großmutter.“
Die
junge Frau ließ das Guinness sinken, das sie soeben für einen weiteren Schluck
an den Mund führte, dann schlug sie ganz plötzlich die Augen nieder. Zweifellos
fühlte sie sich ertappt. Sie war von Bloemberg auf etwas aufmerksam gemacht
worden, das sie für einen Moment erfolgreich verdrängt hatte.
„Ich
habe nur kurz mit dem Krankenhaus telefoniert heute Morgen“, gestand sie leise.
„Die Ärzte geben ihr eine Überlebenschance von 25 %, aber nur, wenn sich ihr
Zustand in den nächsten beiden Tagen stabilisiert. Ich bin nicht dazu gekommen,
hinzufahren … Ich hatte nicht mal Zeit, um Karim anzurufen oder zumindest zu
versuchen, ihn irgendwie zu erreichen.“
Es
klang wie ein Schuldeingeständnis.Kees beschlich die Befürchtung, dass sie vor
ihm in Tränen ausbrechen würde. Doch Niandee war selbstbewusst genug, um die
hereinstürzende Erkenntnis wegzustecken. Als sie Kees wieder in die Augen sah,
war ihr Blick fest, ihre Gesichtszüge wirkten emotionslos und kühl.
„Sie
haben ein ausgesprochenes Talent, Leute fertigzumachen, wissen Sie das?“
„Das
kann ich nicht bestätigen“, konterte Kees. „Ich mache nur meinen Job.“
„Dann
sollten Sie lieber besser zuhören und mich nicht in eine Ecke drängen, in die
ich nicht gehöre.“
Kees
unterdrückte ein abschätziges Lachen und leerte stattdessen in aller Seelenruhe
sein Glas. Er hatte es geahnt und Recht behalten. Auch in diesem Punkt glich
Niandee anderen Frauen, die Kees zu gut kannte. Gewöhnlicherweise waren es
Journalisten von Nasinghs Schlag, die mit bohrenden Fragen und Übereifer andere
bedrängten und zu unglücklich formulierten Antworten trieben. Diese wurden dann
in der Nachbearbeitung so zusammengeschnitten, dass davon nur noch übrig blieb,
was dem Interviewer in den Kram passte. Vornehmlich waren das pointierte
Aussagen, die Leser, Zuschauer oder Zuhörer aufmerken ließen. Offensichtlich
war Niandee Nasingh allerdings nie darin geschult
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