Sonne, Schnee und Tote
so da, bis sie endlich den Mund wieder aufmachte
und Bloemberg die Wahrheit erzählte.
Die
Wahrheit über Niandee und Karim war eine Geschichte zweier Menschen aus
Feyenoord, die sich in den letzten Jahren gegenseitig unterstützt hatten.
Zunächst nur aus rein praktischen Gründen, bald jedoch waren beide sich auch
zwischenmenschlich näher gekommen. Die Konzertkarte war Karims Geschenk zum
inoffiziellen Jahrestag ihrer ersten Begegnung gewesen. Sie waren kein Paar,
dafür hatte die Anziehung nicht ausgereicht, aber – so wie Niandee es beschrieb
– verband die zwei etwas, das nur wenige Menschen erlebten.
Kees
hörte aufmerksam zu und als Niandee ihn nach beendeter Offenbarung flehend in
die Augen sah, konnte er nicht abstreiten, dass ihn das berührte und keineswegs
kalt ließ. Er war weit davon entfernt zu schluchzen und zu wimmern, aber
Niandees Worte versetzten ihm doch einen Stich in der Brust.
„Bitte,
Inspecteur, überprüfen Sie wenigstens, ob er dort ist. Ich flehe Sie an.“
„Das
kann ich nicht. Ich bin nicht befugt. Mein Vorgesetzter …“
„Inspecteur
… Bitte.“
Kees
stieß einen Seufzer aus. Er konnte Niandee nicht helfen. Van Houdens Worte
waren unmissverständlich gewesen. Bloemberg wandelte an einer gefährlichen
Schwelle und der nächste Fehltritt würde seine berufliche Karriere in den
Abgrund stürzen. Ihm waren die Hände gebunden. Keine
Chance.
„Begleiten
Sie mich wenigstens. Wenn Sie nicht gehen, dann erledige ich das auf eigene
Faust.“
„Frau
Nasingh, ich bitte Sie. Seien Sie vernünftig. Sie können nicht einfach …“
„Doch!
Und ich werde. Sie wollen mir nicht helfen? In Ordnung, aber versuchen Sie
nicht mich aufzuhalten.“
Offensichtlich
resignierte sie in dieser Sekunde, denn sie schüttelte nur noch den Kopf, warf
ihm einen unbeschreiblich gequälten letzten Blick zu, schnippte die Zigarette
in das Glas mit dem anderen Kippenstummel und verließ Bloembergs Appartement.
Kees
lehnte sich gegen den Türrahmen und sah ihr nach.
Eine
anstrengende Frau ,
dachte er und zählte das Klacken ihrer Absätze auf den Holzstufen, bis sie
unten angekommen war.
„Du
kannst ihr nicht helfen, Kees“, murmelte er und befühlte, als sei es ein
Mahnmal dieses Tages, die Brandblase auf seiner rechten Handfläche.
„Van
Houden zerreißt dich in der Luft, wenn er davon erfährt, dass du dich trotz
aller Ermahnungen bei Hadoshs Lagerhaus rumtreibst.“
Verdomme.
Als
die schwere Haustür unten im Flur ins Schloss fiel und davon kündete, dass sie
tatsächlich gegangen war, verwünschte er sich selbst und seine Unfähigkeit, sie
einfach im Stich zu lassen, schlüpfte zuerst in seine Sneakers, dann in den
grauen Regenmantel und eilte ihr nach.
„Du
begehst einen großen Fehler“, sagte er sich wieder und wieder, während er immer
drei Stufen zugleich nahm, aber das vermochte ihn nun auch nicht mehr
zurückzuhalten. Es hieß an diesem Tag erneut und damit mindestens einmal zu
oft: „Alles oder Nichts.“
***
Kapitel 18
20:24, Wilhelmina-Pier
„Damit
das klar ist. Sie halten sich zurück, und wenn uns niemand die Tür öffnet,
werden wir wieder gehen. Haben wir uns verstanden?“
„Ist
in Ordnung.“
„Dann
hätten wir das ja geklärt. Also gut.“
Kees
Bloemberg nickte Niandee zu und zog den Zündschlüssel. Beide verließen das
Wageninnere. Der Parkplatz war derselbe, den er am vergangenen Wochenende
zusammen mit Fred Maartens angesteuert hatte. Draußen war es noch hell, aber
die Dämmerung hatte längst eingesetzt und bald würde es dunkel werden,
stockfinster, wenn man die von Westen nahende Wetterfront bedachte, deren
tiefschwarze Wolkenmasse von einem heraufziehenden Gewitter kündete.
„Wäre
auch zu schön gewesen, wenn sich das bisschen blauer Himmel gehalten hätte“,
kommentierte Kees den neuerlich anstehenden Wetterumschwung, als sie über die
Straße eilten. Niandee hob nicht einmal den Kopf, um etwas zu antworten. Ihr
Blick war einzig auf die Eingangstür des Kühlhauses fixiert.
Der
Betrieb war noch immer nicht wieder aufgenommen worden, das verkündete
zumindest der Zettel durch den man die Mitteilung, die montags noch an der
Glastür pappte, ersetzt hatte.
Als
Kees‘ Finger den Klingelknopf berührte, hatte er ein mulmiges Gefühl. Sein
inneres Ich riet ihm förmlich dazu, schnellstmöglich zurück nach Hause zu
fahren. Der gefasste Entschluss war ihm bereits auf dem Weg zum Wilhelmina-Pier
immer unsympathischer geworden.
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