Sonne, Schnee und Tote
chronischen Gasfuß besaßen oder ständig über jene
nörgelte, die sich an das Geschwindigkeitslimit hielten. Er war kein Raser,
zumal seine alte Kiste das ohnehin nicht zugelassen hätte. Heute allerdings
wünschte er sich sehnlichst, schneller als an anderen Tagen zurück zu sein.
So
war er bei Minusgraden hinter dem Steuer gefesselt und ging innerlich immer
wieder den vorangegangenen Dialog mit Nicolas van Houden und den daraus
folgenden Konsequenzen durch. Es war eine Qual. Eine Qual, die auch nicht
besser wurde, als er mit dem Fiesta endlich auf seinen Stellplatz rollte und
das Auto verließ. Denn als er das (knapp eine Stunde nach dem Gespräch) tat,
war er mit seinen Gedankengängen an einem Punkt angelangt, den er schnellstens
klären musste. Nämlich der Frage: Wie er den beiden Jungs, die ihn zwar nie als
Familienersatz anerkannt, jedoch in den vergangenen 24 Monaten durchaus
schätzen gelernt hatten, beibringen sollte, dass sie sehr bald in eine mehr
oder minder intakte Familie aufgenommen werden würden.
Noch
während er gedankenverloren über den zentimeterhoch verschneiten Vorplatz an
kleineren, aufgebockten Segelbooten vorbeistapfte und sich dabei nicht etwa
fragte, wieso weder Imar noch Namir seiner Aufforderung vom Vormittag
nachgekommen waren, den Platz vom Schnee zu befreien, drangen Schreie an sein
Ohr. Sie rissen Bert aus seinem grüblerischen Zustand und ließen ihn seine
Schritte beschleunigen. Das Gebrüll kam aus der Unterkunft, einem aus dunklem
Holz errichteten Bungalow mit kleinen Fenstern. Aber bevor der Sozialarbeiter
die Tür aufreißen konnte, schwante ihm bereits, was (in dem fünf Zimmer
fassenden Häuschen) im Gange war. Die beiden waren vermutlich wieder in eine
Rauferei geraten. Es wäre nicht das erste Mal und Bert war nicht wild darauf,
zu erfahren, um was es diesmal wieder ging.
Die
Brüder konnten ein Herz und eine Seele sein und hielten bei allem möglichen
Bockmist, den sie gemeinsam zu verantworten hatten, zusammen. Dann wiederum
entzündete sich bei den kleinsten Kleinigkeiten Streit, der auch immer wieder
in Gewalt und verbale Ausfälle gegeneinander ausartete. Bert glaubte
mittlerweile, dass zwischen Namir und Imar eine brüderliche Hassliebe
herrschte, bei der die Grenzen zwischen Zueinanderhalten, Neid und Missgunst
eng beieinanderlagen. Es war für Van Helig nie einfach gewesen, zu
unterscheiden, in welche Richtung eine Situation letztendlich ausartete. Daher
schob er seinen massigen Körper langsam durch die Eingangstür und betrat ohne
großes Aufsehen den Wohnbereich.
Die
Balgerei fand im Wohnzimmer direkt vor dem häuslichen Hintereingang statt. Auf
dem Korkboden lag Namir bäuchlings (in komplette Wintermontur gehüllt). Imar
kniete über seinem jüngeren Bruder, hatte diesem beide Hände auf dem Rücken
gedreht. Vermutlich unter der Anstrengung der letzten Minuten und trotz der
heftigen Gegenwehr des immerzu schreienden Namir, hatte er dessen Hände mit
einem dünnen Nylonseil gefesselt.
„Ich
hasse dich. Ich hasse dich! Mach mich los. Mach mich los!“, brüllte Namir.
Seine Stimme klang hysterisch und er versuchte, mit den noch freien Füßen nach
Imar zu treten. Er verfehlte den größeren Bruder, auch weil dieser geschickt
auswich.
„Na,
nicht mehr der ganz große Macker jetzt oder?“, höhnte er und griff Namir in den
Nacken.
„Ich
hab nichts gemacht. Lass mich frei!“
„Ach
nein?“, fragte Imar und drückte seine Finger zusammen, sodass Namir einen
unterdrückten Schmerzensschrei von sich gab. „Versuchst doch Bertis Liebling zu
sein oder seh ich’s falsch?“
„Argh!
Wollte nur tun, was unsere Aufgabe für heute ist.“
„Pah!“,
machte Imar.
„Schnee
beiseite schaufeln, wenn es schneit. Total dämlich. Du machst jeden Scheiß, um
unserem Berti zu gefallen.“
„Gar
nicht wahr. Arbeit ist Arbeit und muss sowieso gemacht werden. Außerdem wollt‘
ich aus dem Schnee nen Bunker bauen für unsere Schneeballschlacht.“
„Laber
nicht, Brüderchen. Schneeballschlacht? Kannst du haben. Guck, was ich für dich
hab.“
Schwungvoll
drehte er sich zur geöffneten Hintertür und eine Sekunde später wieder zurück,
in der Hand einen großen Klumpen Schnee. Er hielt Namir die Kugel vor das
Gesicht.
„Du
bist eine kleine Hure. Stimmt‘s nicht?“
„Nein!
Lass mich frei.“
„Doch
das bist du. Machst hier alles. Also friss das.“
Imar
drückte Namir den Schneeball ins Gesicht. Es war genug. Das war der Augenblick
in dem Bert in
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