Sonne über Wahi-Koura
den Maori eher Wilde sehen als ein Volk mit einer eigenen Kultur.«
»Ich bin sicher, dass die Zahl dieser Leute mittlerweile abgenommen hat.«
»Wie ich schon sagte, Sie haben keine Ahnung von diesen Dingen, Helena. Wie denn auch? Sie sind in einem ganz anderen Land aufgewachsen.«
»Auch bei uns gibt es Neid und Missgunst«, wandte Helena ein. »Als ich das Gut meiner Eltern übernehmen musste, war ich gerade achtzehn. Sie können mir glauben, dass etliche Konkurrenten versucht haben, sich meinen Besitz anzueignen. Ich wurde in der feinen Gesellschaft schief angesehen. Entweder wurde ich gemieden, oder man wollte mich mit einem der eigenen Sprösslinge verkuppeln. Bevor ich Laurent traf, hatte ich nicht vor, jemals zu heiraten. Aber damals wusste ich noch nichts von der Liebe. Erst durch Laurent habe ich erfahren, wie überwältigend die Liebe ist.«
Louise verharrte einige Minuten in nachdenklichem Schweigen.
Helena fürchtete bereits, dass sie ihre Schwiegermutter verärgert hatte.
Aber dann fragte Louise leise: »Versprechen Sie mir etwas, Helena?«
»Wenn es in meiner Macht steht.«
»Bitte lassen Sie Wahi-Koura nicht untergehen! Bewahren Sie es für Ihre und Laurents Tochter. Und behüten Sie den Stamm auf unserem Land. Diese Menschen haben es nicht verdient, von engstirnigen pakeha vertrieben zu werden. Sie sollen so leben können, wie es sie glücklich macht.«
»Dafür werde ich sorgen.«
Die Blicke der beiden Frauen trafen sich.
»Sie fragen sich sicher, warum ich so heftig auf den manaia reagiert habe.«
»Ich habe ihn wieder ins Buch zurückgetan«, antwortete Helena schnell.
»Geben Sie ihn ruhig meiner Enkelin. Er gehörte einst Laurent. Ich wollte nicht, dass ihm seine Herkunft zum Nachteil geriet, also habe ich das Amulett versteckt. Dort, wo ich glaubte, dass Laurent es niemals finden würde.«
»In einem Buch über Weinbau.«
»Jetzt bin ich froh, dass Sie es gefunden haben. Es war ein Zeichen der alten Götter.« Louise zog die Bettdecke höher an ihre Brust. »Ich habe noch eine Bitte, Helena.«
»Sagen Sie ruhig, was Sie sich wünschen«, antwortete Helena.
»Ich möchte Laura sehen. Würden Sie sie mir wohl bringen, da ich nicht aufstehen kann?«
Helena presste die Lippen zusammen und unterdrückte die Tränen. Sollte es so schlimm um Louise stehen, dass sie von ihrer Enkelin Abschied nehmen wollte?
»Ich hole sie sofort«, antwortete sie und lief in die Kinderstube. Dort hob sie die schlafende Laura behutsam aus der Wiege und trug sie in Louises Schlafzimmer.
Als sie das Mädchen der Kranken in den Arm legte, strahlte Louise und ihr blasser Teint nahm wieder ein wenig Farbe an. Gerührt beobachtete Helena, wie sich ihre Schwiegermutter in Gegenwart ihrer Tochter verwandelte.
»Ma petite princesse«, murmelte sie, als die Kleine die Augen aufschlug und die Hände nach ihrer Großmutter ausstreckte.
Laura umklammerte Louises Zeigefinger und krähte fröhlich.
»Eines Tages wirst du die Herrin über Wahi-Koura sein. Bestimmt wirst du eine wunderbare Winzerin«, murmelte Louise.
»Ich werde dafür sorgen, das verspreche ich Ihnen«, sagte Helena, aber Louise reagierte nicht darauf. Sie hatte nur Augen für ihre Enkeltochter.
Als Louise schließlich ein altes französisches Wiegenlied anstimmte, wandte Helena sich ab, denn sie konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten.
Lieber Gott, bitte, gib ihr noch ein wenig Zeit!, betete sie still.
In der Nacht fand Helena keinen Schlaf. Nachdem sie sich eine Weile im Bett hin und her gewälzt hatte, erhob sie sich und zog sich ihren Morgenmantel über. Dann verließ sie das Zimmer. Sehnsucht brannte in ihr. In diesem Augenblick wünschte sie sich Zane her, doch das war unmöglich. Er war in seinem Quartier, und sie beide waren übereingekommen, sich gegenüber den Arbeitern nichts anmerken zu lassen. Also streifte sie ruhelos im Haus umher, getrieben von ihren Gedanken. Louises Beichte vor ein paar Stunden beschäftigte sie noch immer. Dass ihre Schwiegermutter es aufgrund ihrer Herkunft so schwer gehabt hatte, hätte sie nie vermutet. Werden die Maori irgendwann einmal anerkannt werden?, fragte sie sich. Werden sie ihre Sprache sprechen können? Dann hatte sie wieder Louises zärtlichen Umgang mit Laura vor Augen. Louise war gewiss eine gute Mutter für Laurent, trotz aller Differenzen, die sie schließlich auseinandergetrieben hatten. Gebe Gott, dass sie sich wieder erholt und ihr noch ein paar Jahre beschieden sind!, flehte
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