Sonne über Wahi-Koura
erbot Louise seinen Arm und führte sie davon.
Helena war froh darüber, dass sie für einen Moment allein sein konnte. Sie erwiderte die Blicke und Grüße der Menschen lächelnd und beobachtete Louise und Reed, die etwas abseits der Kirchgänger auf dem Gehweg stehen blieben.
Was sie wohl zu bereden haben?
»Ah, Mistress de Villiers, wie nett, Sie noch einmal zu sehen!«
Helena drehte sich um.
Manson lächelte sie breit an.
»Was gibt es, Mister Manson?«, fragte sie reserviert. Sie hatte nicht vor, sich auf ein langes Gespräch einzulassen. Louise würde das nicht gutheißen.
»Sie sind also die Schwiegertochter von Madame.«
»Wie Madame Ihnen bereits mitgeteilt hat.«
Manson zog eine Augenbraue hoch, doch er lächelte noch immer. Wie ein Wolf angesichts seiner Beute, fand Helena. »Der Tod Ihres Gatten hat uns alle sehr betrübt. Umso mehr freue ich mich, dass es auf Wahi-Koura endlich Nachwuchs geben wird. Madame ist gewiss unendlich stolz.«
Ich kann verstehen, warum Louise ihn nicht mag. Selbst wenn er nicht die Protestler angeführt hätte, hätte mich seine Art abgestoßen.
»Das sollten Sie sie selbst fragen, Mister Manson. Sie wird sicher gleich zurückkehren.«
Mansons Lächeln versteinerte. »Offenbar haben Sie ebenso wenig Freude an Konversation wie Ihre Schwiegermutter.«
»Durchaus nicht! Allerdings fürchte ich, dass mir das schwüle Klima derart zusetzt, dass ich Ihnen nicht die nötige Aufmerksamkeit widmen kann. Guten Abend, Mister Manson.«
Sie blickte nach vorn, bemerkte aber, dass Manson sie weiterhin beobachtete. Erst als sich Louise von Reed verabschiedete und zu ihr kam, zog er sich zurück.
Helena unterdrückte ein Schaudern. Was für ein furchtbarer Kerl!
Die Nachricht für Louise war wohl nicht gut ausgefallen. Ihre Gesichtszüge wirkten finster.
»Was wollte Manson von Ihnen?«, fragte sie barsch.
Ihr entgeht offenbar nichts, dachte Helena niedergeschlagen. »Er hat mir sein Beileid zum Tod meines Mannes ausgesprochen und sich erdreistet, den Nachwuchs auf Wahi-Koura zu kommentieren.«
Louise schnaubte. »Dieser Emporkömmling hat keine Manieren! Warum haben Sie sich überhaupt auf ein Gespräch eingelassen? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie sich anständig verhalten sollen!«
»Das habe ich, Madame! So höflich wie möglich habe ich ihm klargemacht, dass ich nicht an einem Gespräch mit ihm interessiert bin.«
»Und dennoch stand er eine ganze Weile hier.«
»Nun, ich kann niemandem den Platz unter seinen Füßen verbieten.« Helena erwiderte Louises prüfenden Blick.
»Wir sollten fahren«, erklärte diese und winkte die Kutsche heran.
Wie Helena es erwartet hatte, wurde es eine stille, traurige Weihnachtsnacht. Nach der Rückkehr von der Kirche zog sich Louise in ihre Gemächer zurück. Sie wirkte niedergedrückt. Ob ihr an den Festtagen besonders schmerzlich bewusst wurde, dass sie ihren einzigen Sohn nie wiedersehen würde?
Helena konnte sich nicht vorstellen, dass das Gespräch mit dem Anwalt sie so traurig gestimmt hatte.
Nach einem einsamen Abendessen, das aus Braten, Gemüse und Kartoffeln sowie Plumpudding und Früchten bestanden hatte, trat Helena ans Fenster. Dabei umklammerte sie das Medaillon von Laurent. Der Sternenhimmel funkelte wie ein Meer von Diamanten.
Liebster, bist du dort draußen?, sinnierte sie. Gibt es vielleicht einen Himmel, von dem aus du mich sehen kannst?
Einer plötzlichen Eingebung folgend, ging Helena nach draußen. Die Abendluft war mild. Helena verschränkte die Arme vor der Brust und lauschte. Merkwürdige Vogelrufe ertönten in der Ferne. Das Gut wirkte verlassen. In den Fenstern brannte kein Licht. Louise war wohl schon zu Bett gegangen. Oder sie geistert durchs Haus auf der Suche nach mir, durchfuhr es Helena.
Fasziniert von der Schönheit der Nacht, strebte Helena dem Weinberg zu. Im Mondschein wirkte dieser Ort wie verwandelt. Für einen Moment konnte sie sich der Illusion hingeben, in ihrer Heimat zu sein, auf ihrem eigenen Weingut. Das Weinlaub raschelte unter einer sanften Brise. Helena kamen all die glücklichen Stunden, Tage, ja Wochen in den Sinn, die sie dort im Freien verbracht hatte. Manchmal war sie nach getaner Arbeit am Abend mit Laurent zwischen den Spalieren verschwunden und hatte dort, inmitten der Rebstöcke, mit ihm zusammen den Sonnenuntergang abgewartet, um danach die aufleuchtenden Sterne zu zählen. Laurent hatte ihr die einzelnen Sternbilder gezeigt und ihr erklärt, dass die Sterne in
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