Sonnenfall - McAuley, P: Sonnenfall - The Gardens of Sun
gewaltfreien Widerstand leisteten, mochten ehrenhaft, prinzipientreu und mutig sein, aber eigentlich waren sie verrückt. Sie würden in ihren isolierten Baracken immer schwächer werden und schließlich sterben. Und ihre Prinzipien mit ihnen. Außerdem hatte er mit dem Ganzen nichts zu tun. Er war weder Außenweltler, noch Brasilianer. Weder Gefangener, noch Besatzer. Er war ein freier Mann. Er hatte sich den Brasilianern freiwillig ergeben, weil es die beste Chance für ihn war, Zi Lei zu finden. Er wusste, dass es eine gefährliche Suche war, die beinahe an Dummheit grenzte, aber sie
gab seinem neuen Leben eine Gestalt und ein Ziel. Er war dazu ausgebildet worden, jemand anderes zu sein: eine andere Identität anzunehmen, die Bevölkerung des Feindes zu infiltrieren und eine geheime Mission auszuführen. Das hatte er vor dem Krieg getan. Damals hatte er als Ken Shintaro die Infrastruktur von Paris sabotiert. Und genau das tat er auch jetzt wieder. Trotz der Entbehrungen, der Furcht und der harten Arbeit fühlte er sich ruhig und zufrieden.
In den ersten Wochen arbeiteten der Spion und die anderen Gefangenen, bei denen es sich sämtlich um unverheiratete, kinderlose Männer handelte, jeden Tag zwölf Stunden in den Ruinen der Stadt. Sie wurden dabei kaum überwacht. Nach der Arbeit durften sie über ihre Zeit frei verfügen und hatten sich selbst in Mannschaften eingeteilt, die eine Reihe von alltäglichen Aufgaben übernahmen. Sie wechselten sich beim Kochen, Wäschewaschen und Putzen ab und kümmerten sich um diejenigen, die während der Schlacht um Paris oder in der Folgezeit des Krieges verletzt worden waren. Sie sammelten Urin und Fäkalien ein und recycelten sie, pflegten die Obstbüsche, die in der Farmröhre wuchsen, die ihnen als Quartier diente, und verteilten frisches Obst als Ergänzung zu den Rationen synthetischer Nahrungsmittel.
Der Spion wurde in dieser kleinen Gemeinschaft sofort willkommen geheißen. Die Außenweltler waren weder naiv, noch leichtgläubig, aber sie waren von Natur aus gastfreundlich und hatten noch nicht gelernt, Fremden mit Argwohn und Misstrauen zu begegnen. Außerdem war es offensichtlich, dass er mit seinem hochgewachsenen Körper, den Greiffüßen und den zusätzlichen einfachen Herzen in den Oberschenkel – und Unterschlüsselbeinarterien einer von ihnen war. Und seine Geschichte über seine Suche nach seiner Freundin Zi Lei sprach ihren starken Sinn für
Romantik an. Er erzählte ihnen, dass Zi Lei vor dem Krieg gefangengenommen und inhaftiert worden war und dass er sie in dem Tumult, der während des Angriffs auf die Stadt geherrscht hatte, nicht hatte finden können. Damals waren Kampfdrohnen und Truppen vom Himmel gefallen und hatten die Verteidigungsanlagen im Umkreis der Stadt überrannt. Seither war er auf der Suche nach ihr.
Niemand in der Farmröhre hatte Zi Lei vor dem Krieg gekannt oder wusste, ob sie die Kämpfe überlebt hatte. Und die Brasilianer hatten Männer und Frauen getrennt untergebracht. Es ließ sich deshalb nicht einfach herausfinden, ob sie ebenfalls unter den Gefangenen war, in einer der Arbeitsmannschaften oder, was wahrscheinlicher war, unter den Verweigerern. Der Spion wartete ab. Er hatte gelernt, geduldig zu sein. Aber er fragte sich immer wieder, wo sie war und ob es ihr gutging. Die zarte, hilflose Sehnsucht in seinem Innern bedeutete offenbar, dass er verliebt war.
Die Arbeitsmannschaft des Spions hatte die Aufgabe erhalten, die Leichen von Stadtbewohnern einzusammeln, die während der Übernahme von Paris getötet worden waren. Die Brasilianer waren zu beiden Seiten des Stadtzeltes eingedrungen und unter heftigen Straßenkämpfen zur Stadtmitte vorgerückt. In einer letzten Verzweiflungstat hatten die Verteidiger der Stadt öffentliche Gebäude in die Luft gesprengt und in Brand gesteckt. Und dann hatte das Zelt einen Riss bekommen, und die Stadt hatte ihre Luft verloren. Die Hälfte der Bevölkerung war gestorben. Etwa zehntausend Menschen.
Die Mannschaft arbeitete im niederen Teil der Stadt, wo sich zahlreiche Manufakturen, Werkstätten und altmodische Apartmenthäuser befanden. Dort hatte der Spion vor dem Krieg als Ken Shintaro gewohnt, und er fand es merkwürdig,
jetzt dorthin zurückzukehren. Die Energieversorgung war wiederhergestellt worden, aber die Stadt war immer noch dem Vakuum ausgesetzt, und alles war bei – 200°C gefroren. Die Bäume hatten bei der explosionsartigen Dekompression, als das Stadtzelt einen Riss bekommen
Weitere Kostenlose Bücher