Sonnenfall - McAuley, P: Sonnenfall - The Gardens of Sun
hatte, ihre Blätter und Äste verloren und standen nun nackt und eisenhart gefroren an den breiten Alleen. Das halblebendige Gras, das die Alleen und die Parks und Hofgärten bedeckte, war ebenfalls gefroren und verlor im grellen Licht der Lüster langsam an Farbe.
Die meisten Gebäude waren während der Kämpfe beschädigt worden, nur wenige waren unversehrt geblieben. In den Apartments, den zentralen Innenhöfen und Kellern lagen überall Leichen. Im Freien zu Boden gesunken, wo sie von der Dekompression überrascht worden waren, oder an Türen gepresst, in Bettnischen oder im Innern von Luftschleusen verborgen. Diejenigen, die Druckanzüge getragen hatten, als sie gestorben waren, waren am einfachsten zu handhaben. Die anderen glichen Statuen, die am Boden festgefroren waren, an Möbelstücken oder aneinander. Ihre Köpfe und Hände waren durch den Druckabfall geschwollen und schwarz von Blutergüssen, ihre Gesichter von Blut bedeckt, das aus Ohren, Augen, Mund und Nasenlöchern gequollen war. Ihre Augen waren weit aufgerissen, die geschwollenen Zungen herausgestreckt. Männer, Frauen und Kinder. Säuglinge.
Die Mannschaft nahm Proben von dem gefrorenen Fleisch für die DNA-Analyse, notierte sämtliche Besitztümer und packte sie in Plastikbeutel. Dann wurden die Leichen mit Hilfe von Brecheisen und Keilen vom Boden gelöst und durch Luftschleusen aus der Stadt geschafft, deren dreifache Türen dauerhaft offen standen. Bauroboter gruben lange Gräben in das eisige Regolith hinter dem Ostrand der Felder
mit Vakuumorganismen. Die Leichen wurden ohne großes Aufhebens hineingeworfen und mit Eisschotter zugeschüttet – als wollten die Brasilianer sämtliche Beweise für die Gräueltaten, die sie begangen hatten, so schnell wie möglich beseitigen.
Nachdem die Leichen auf öffentlichen Plätzen geborgen waren, verwandelten sich die Aufräumarbeiten in eine makabere Schatzsuche. Apartmenthäuser wurden Zimmer für Zimmer abgesucht. Sie sahen in Kellern und Wartungstunneln nach. In Lagerräumen und Schränken, wo die Leute Zuflucht gesucht oder sich ein wenig verbliebene Luft aufgespart hatten. Die Mitglieder der Bergungsmannschaften arbeiteten bis zur völligen Erschöpfung. Sie wandten den Blick von den Gesichtern der Toten ab, während sie sich mit Hebeisen, Brechstangen oder Schneidwerkzeugen an ihnen zu schaffen machten. Sie verfluchten die steifen und unhandlichen Leichen, setzten sich nieder und weinten hemmungslos, bis sie von den brasilianischen Wachen an die Arbeit zurückgescheucht wurden.
Furchtbare Geschichten waren im Umlauf, über Leute, die geliebte Angehörige, Partner, Eltern oder Kinder gefunden hatten. Es war eine grauenhafte Arbeit. Nicht wenige Mitglieder der Bergungsmannschaften begingen Selbstmord. Einige auf dramatische Weise, indem sie ihre Helme öffneten oder sich unter die Raupenketten eines der Bauroboter warfen, die stark beschädigte Gebäude einrissen. Die meisten schalteten jedoch einfach in einem unbeobachteten Moment ihre Luftfilter aus. Angeblich war das ein durchaus angenehmer Tod. Man wurde immer müder, während der Kohlendioxidgehalt der Atemluft anstieg, und schlief irgendwann friedlich ein.
Die Selbstmörder wurden ebenfalls in die Gräben geworfen.
Einmal stand der Spion mit den anderen Mitgliedern seiner Mannschaft in einer Reihe an einer der großen Luftschleusen. Alle zitterten vor Erschöpfung im Innern ihrer Druckanzüge, während sie darauf warteten, dass ihre bewaffnete Eskorte sie zu ihrer Farmröhre zurückbrachte. Da glitt ein Schlitten vorbei, und etwas erregte die Aufmerksamkeit des Spions. Eine Frau, die oben auf dem Berg Leichen lag, ihr unversehrtes Gesicht bleich und hart wie das einer Marmorstatue, ein steifes Banner aus schwarzem Haar, mandelförmige Augen, kleine Stupsnase. Das war sie. Das war Zi Lei. Er brach aus der Reihe aus und rannte hinter dem Schlitten her. Aber als er ihn erreicht hatte, sah er zu seiner Erleichterung, dass die Tote doch nicht Zi Lei war. Zwei Wachen stürzten sich auf ihn und schlugen ihn zu Boden. Sie schleppten ihn zum Strafblock, zogen ihn aus, prügelten ein wenig lustlos auf ihn ein und warfen ihn in eine Zelle, wo sie ihn eine Nacht lang ohne Wasser und Essen einsperrten. Am Morgen gaben sie ihm seinen Druckanzug zurück und schickten ihn wieder an die Arbeit.
Niemand in der Mannschaft verlor ein Wort über seinen Aussetzer.
Der Spion war nun schon seit mehr als sechzig Tagen in der Stadt und hatte immer noch
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