Sonnenfeuer
Kirchenkonzerten. Voller Stolz hatte Mrs. Middleton ihren neuen Freundinnen unbedingt erzählen müssen, daß Diamond ausgezeichnet lesen konnte. Das schien die Damen anfangs zu erstaunen, aber schon bald schenkten sie ihr Bücher. Gebetbücher. Jedes Buch, das sie bekam, hatte irgendwas mit Religion zu tun! Dabei bevorzugte sie eigentlich Zeitungen, die sie mit größter Aufmerksamkeit las, weil man viel daraus lernen konnte. Wenn sie Meldungen über die »notwendige Erschießung wilder Schwarzer« las, wurde sie allerdings rasend vor Wut. Die Zeitungen sprachen oft von »zahmen« Schwarzen, und mit Entsetzen erkannte sie, daß auch sie dazu gehörte. Aber damit mußte sie sich wohl abfinden. Seit sie nicht mehr in der Wäscherei arbeiten mußte, war sie wacher und neugieriger geworden.
Als sie das Lager der Bindal gefunden hatte, setzte sie sich zu den Schwarzen und hörte sich ihre Geschichten an. In der Vergangenheit hatte es das Schicksal immer gut mit diesem Stamm gemeint. Die Menschen waren keine Krieger, sondern freundlich und freigiebig. Und warum auch nicht? Das Land, das sie bewohnten, versorgte sie mit Nahrung im Überfluß, und es gab zahlreiche Quellen. Die Bergvölker wie auch die Völker aus dem Landesinnern besuchten gern die Bindal, erfuhr Diamond, und sie schloß daraus, daß dies ein Ort der Erholung sein mußte. Die Gräfin und ihre Freunde verließen Brisbane oft für Wochen, um an die Meeresküste zu fahren. »Gut für die Gesundheit«, hatte der Koch gesagt. Die Stammesleute taten offenbar dasselbe.
Diamond fragte nach den Irukandji, doch niemand konnte ihr Auskunft geben. Immerhin verwies man sie unter viel Kichern an eine Frau namens Barrungulla.
»Wo kann ich sie finden?«
Sie deuteten auf die andere Seite der Bucht, und so marschierte Diamond mit ihren Schuhen in der Hand den Strand entlang, watete durch das seichte Wasser und dachte dabei an einen anderen Strand, der zwar irgendwo in weiter Ferne lag, aber diesem dennoch ähnelte. Sie war verwirrter als zuvor und ihrem Ziel noch keinen Schritt näher gekommen. Die Reise von Brisbane nach Bowen entlang der Küste hatte über eine Woche gedauert. Es sah ganz so aus, als sei sie zu weit nach Norden gekommen. Die Nachricht, daß viele Stammesleute aus anderen Gegenden die Küste aufsuchten, hatte ihr den Mut genommen. Vielleicht stammte sie ja aus einer Familie von Nomaden oder Händlern. Sie konnte sich kaum daran erinnern. Ihr Kopf schmerzte, wenn sie Bilder aus der Vergangenheit ins Gedächtnis zurückrufen wollte. Von Zeit zu Zeit kamen ihr flüchtige Worte in den Sinn, und sie versuchte sie festzuhalten, doch sie zerrannen ihr wie Sand zwischen den Fingern.
Diamond mußte weit gehen. Ihr Kleid war durchnäßt, aber es kühlte die Knöchel, und da sie unter ihrem Turban schwitzte, nahm sie ihn ab und steckte ihn in den Gürtel. In nicht allzu weiter Ferne erkannte sie die Umrisse einer menschlichen Gestalt. Beim Näherkommen stellte sie fest, daß es sich um eine Frau handelte. Sie stand am Strand, die Hände in die Hüften gestemmt. Wie eine pechschwarze Statue ragte sie vor dem glitzernden Meer auf. An ihrem großen, mächtigen Körper trug sie nichts weiter als einen Lendenschurz und eine Perlmutthalskette. Zerzaustes graues Haare umrahmte ihr zerfurchtes Gesicht. »Was du wollen?« rief sie, und Diamond blieb stehen.
»Reden«, erwiderte sie.
Der rechte Arm der Frau schoß vor wie ein Speer, den Zeigefinger hatte sie anklagend auf Diamond gerichtet. Sie zuckte zusammen. Für einen Augenblick dachte sie, die Frau hätte etwas nach ihr geworfen.
»Du zurück!« befahl die Frau.
Diamond wurde ängstlich. Auf einmal kam ihr dieser Küstenstreifen gespenstisch vor, und sie glaubte das Gemurmel von Stimmen aus der Vergangenheit zu hören. Möglicherweise war sie versehentlich einer heiligen Stätte zu nahe gekommen, von der sich Frauen für gewöhnlich fernhalten mußten. Aber warum war dann diese Frau hier? »Nein«, rief sie. »Ich will mit dir reden.«
»Du weiße Hure!« kreischte die Frau und schritt auf sie zu. Die dunklen Augen blitzten sie feindselig an.
Diamond war so starr vor Schreck, daß sie wie gelähmt dastand. Aus dem dichten Grün hinter dem Strand spürte sie die Blicke, die auf sie gerichtet waren, und einen verzweifelten Moment lang starrte sie hinaus aufs Meer, ihren einzigen Fluchtweg. Hatte sie sich nicht irgendwo, irgendwann, schon einmal auf diese Weise gerettet? Doch mit diesem dicken Kleid und all den
Weitere Kostenlose Bücher