Sonnenfeuer
gesellschaftlichen Rang. Der Torweg selbst war über und über mit kunstfertigen Steinmetzarbeiten verziert, und das reichgeschmückte Pförtnerhaus prangte in Rot und Gold. Wie bei den anderen Gebäuden waren auch seine Dachenden nach oben geschwungen und lenkten das Auge des Betrachters von den schweren Metalltoren und den bewaffneten Wächtern ab.
Chin Ying lebte seit seiner Geburt vor sechsundzwanzig Jahren im Haushalt des Fürsten. Schon sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater hatten dem Fürsten als Oberste Kornbeauftragte gedient, und bald würde er an der Reihe sein, diese überaus ehrenhafte Aufgabe zu übernehmen. Zwar bedeutete es eine große Verantwortung für einen so jungen Edelmann wie ihn, doch er glaubte, daß er dieses Amt gut versehen würde. Nach dem plötzlichen Tod seines Vaters war er der nächste in der Erbfolge, und außerdem verfügte er über eine gute Ausbildung. Er war nicht nur in Philosophie, Literatur, den bildenden Künsten und der Musik bewandert, wie es sich für einen gebildeten Adligen geziemte, seine Lehrer hatten ihn auch in Mathematik und der fremdartigen englischen Sprache unterrichtet. Zur Zeit befanden sich viele Engländer in China, und obwohl Ying noch keinen Ausländer kennengelernt hatte, würden seine Sprachkenntnisse ihm sicher von Vorteil sein, wenn er in die Provinz hinauszog. Sein Vater hatte ihn mehrmals zur Kornernte mitgenommen und ihm nicht nur die Abholung und Lagerung des Getreides bis in alle Einzelheiten erklärt, sondern auch alles über den Zehnten und die Steuern, die die Bauern für das Gemeinwohl abgeben mußten. Jetzt war er dankbar für die Weitsicht seines Vaters. Chin Ying würde ein tüchtiger Oberster Kornbeauftragter werden, und weil er noch so jung war, konnte er irgendwann vielleicht sogar in eine höhere Stellung aufsteigen. Der Tod seines Vaters war ein schwerer Schlag gewesen, aber Li-wen, Yings Frau, war hocherfreut über ihren neuen Stand. Nachdem Yings Mutter – wie es sich für eine Witwe geziemte – ihrem ältesten Sohn den Platz geräumt und sich mit Nanny Tan in den hinteren Flügel zurückgezogen hatte, war das Paar nämlich in den Hauptraum der Villa umgezogen. Chin Ying war nun Vorstand des Haushalts.
Zwei Diener geleiteten ihn über die Bogenbrücke, die den Stillen See mit seinen kleinen Trauerweiden überspannte, zum Pavillon der Purpurinsel. Hier war er noch nie zuvor gewesen. Durch ein Mondtor, das Glückssymbol der Liebenden, betraten sie schließlich den Hof des Großfürsten Cheong. Hier ließ man Ying warten. Seine Füße versanken in dem dicken Teppich, und aus den Augenwinkeln sah er die prächtigen Seidenstoffe, die die Wände schmückten. Sein Herr hatte in der Tat einen sehr erlesenen Geschmack.
Windglockenspiele erklangen, als sich die Türen öffneten und den Blick auf den Thronsaal freigaben. Am anderen Ende des Saals saß Fürst Cheong auf seinem hohen, prunkvollen Baldachinthron. Ehe Ying sich ehrerbietig auf die Knie warf, konnte er noch einen Blick auf die Reihen der Höflinge und Beamten werfen, deren Staatsroben in den herrlichsten Farben leuchteten.
Zu Füßen des Fürsten saß der Schatzmeister an einem kleinen, niedrigen Tisch, auf dem seine Schriftrollen und Pinsel lagen. Yings Vater hatte gesagt, er sei ein seniler Greis, doch seine Mutter war anderer Meinung gewesen; sie hielt ihn für einen gerissenen Beamten, der seine Informanten im ganzen Land hatte.
Auf das Zeichen eines Höflings trat Chin Ying vor bis zu einem kleinen vergoldeten Geländer, das ihn vom Schatzmeister und dem geheiligten Raum des Fürsten dahinter trennte. Ying kniete nieder und senkte den Kopf bis auf den Boden.
»Erhebe dich, Chin Ying«, sagte der Schatzmeister mit seiner brüchigen Stimme, und ein Diener eilte mit einem winzigen gepolsterten Schemel herbei, auf dem der zukünftige Oberste Kornbeauftragte Platz nehmen durfte. Ying verbeugte sich anmutig und ohne im mindesten tölpelhaft zu erscheinen. Bald würde er seine goldene Amtskette empfangen.
Ying sah jetzt erstmals auch den Fürsten selbst. Er war ihm noch nie so nahe gewesen, und er stellte fest, daß das Gesicht des Fürsten Cheong ungewöhnlich weiß war, wahrscheinlich gepudert oder gesalbt. Seine Augenbrauen waren geschwärzt, damit sie zu dem dünnen schwarzen Schnurrbart paßten, der zu beiden Seiten des karminrot bemalten Mundes herabhing. Seine hohe, halbmondförmige Kopfbedeckung war mit orangefarbener Seide überzogen, mit Goldfäden
Weitere Kostenlose Bücher