Sonnenfeuer
schicke.«
Zwei Tage darauf – Ying hatte außer seinem Lehrer keine Menschenseele zu Gesicht bekommen – wurde er zu einer Audienz ins Haus des Schatzmeisters gebracht. Der Kopf brummte ihm von all den neuen Kenntnissen über Gold, diesen unveränderlichen, trägen und unzerstörbaren Stoff, die er sich in den letzten Tagen angeeignet hatte. Dazu kamen noch die vielen Begriffe: Karat, Legierung, Adern, Gänge, Flöze, Alluvialgold und Nuggets. Mit Sicherheit konnte er sich nur noch daran erinnern, daß pures Gold 24 Karat hatte. Wang-tse hatte sich schließlich für dieses Thema erwärmt und Ying eine Truhe mit Schriftrollen gegeben, die sich mit Gold und dessen Gewinnung befaßten und die er auf der langen Reise studieren sollte. Außerdem hatte er ihm auf einer Karte sein Reiseziel gezeigt: das Land, in dem es Gold gab.
Während er auf den Schatzmeister wartete, versuchte Ying, Haltung zu bewahren, doch er fühlte sich elend. Jetzt schickte man ihn also in ein Land, wo es so wild zuging wie bei den Mongolen; zum fernen Kontinent Terra Australis, auf eine lange Seereise über den Äquator durch sturmgepeitschte Meere. Wang-tse lachte sicher in seinen langen weißen Bart hinein, wenn er daran dachte, was seinem Schüler bevorstand. Denn Ying war der verschmitzte Blick des Lehrers nicht entgangen, als dieser seine Schriftrollen durchsah, den Globus betrachtete und Ying dann genaue Karten von jener Provinz namens Queensland aushändigte. Ein winziger goldener Stern markierte die Goldfelder, die am Lauf eines Flusses mit dem schlichten Namen Cape lagen.
»Ich finde diesen Ort nie«, jammerte Ying.
»Aber natürlich. Fürst Cheong wird sich darum kümmern«, erwiderte Wang-tse.
»Aber es ist ein rauhes, noch kaum erforschtes Land, wie Ihr mir gesagt habt, und es leben dort wilde Schwarze.«
»Ich würde sagen, daß es für jemanden in deiner Lage dort sicherer ist als hier.«
»Da habt Ihr wohl recht. Ich sollte unserem Fürsten dankbar sein, daß er mich mit einer so großen Aufgabe ehrt.«
»Ehrt?« fragte der Lehrer. »Er hat genügend Männer, die er auf diese Expedition schicken könnte. Hunderte, vielleicht sogar Tausende unserer Landsleute sind bereits unterwegs zu diesen Goldfeldern, viele davon unfreiwillig und ebenso verpflichtet wie du, ihren Herren Gold zu bringen. Einzig und allein deine Kenntnis der englischen Sprache hat dir das demütigende Schicksal deiner Brüder erspart. Terra Australis ist eine englische Kolonie.«
Ying fand das alles sehr verwirrend. Er hatte die Provinz Hunan noch nie verlassen. Doch es fiel ihm ein, daß Wang-tse von einer Expedition gesprochen hatte. Vielleicht mußte er ja nicht alleine gehen.
Er betrachtete seine fein manikürten Fingernägel.
Schließlich empfing ihn der Schatzmeister und gab ihm weitere Anweisungen. »Heute in drei Tagen, ganz gleich, wie die Sterne stehen, wirst du das Haus des Fürsten Cheong verlassen und zu den Goldfeldern abreisen. Zwei Diener werden dich begleiten, Yuang Pan und sein Bruder Yuang Lu. Du wirst zu Pferde reisen, wie es einem Vertreter des Fürsten Cheong zusteht, und fünfzig Kulis mitnehmen, die an dem bezeichneten Ort unter deiner Aufsicht nach Gold graben werden.«
»Aber wie komme ich an diesen Ort, Herr?«
»Unterbrich mich nicht. Du begibst dich nach Macao und gehst dort an Bord eines Schiffes, das dem Fürsten Cheong gehört. Der Kapitän des Schiffes wird dich zu dem Land bringen, in dem sich das Gold befindet.«
»Es ist in Terra Australis in der Provinz Queensland, und der nächste Hafen heißt Bowen«, prahlte Ying mit seinem neuen Wissen. »Ich vermute, das Schiff wird mich in diesen Hafen bringen.«
»Spare dir deine Vermutungen. Der Kapitän hat seine Anweisungen. Sorge dafür, daß er sie befolgt, dann begib dich zu den Goldfeldern und sammle das Gold, bring es zum Schiff zurück und kehre nach Hause zurück.«
Ying schöpfte plötzlich wieder Hoffnung. Jetzt hatte er nicht nur die Gelegenheit, seiner Familie wieder zu Ansehen und Reichtum zu verhelfen. Vielleicht würde er sogar heldenhafte Abenteuer bestehen müssen. Auf jeden Fall wollte er ein Tagebuch führen, das in seiner Familie von Generation zu Generation weitergereicht werden würde.
»Du kannst jetzt gehen und deine Familie besuchen«, befahl der Schatzmeister. »Aber du darfst mit niemandem über diese Expedition sprechen. Sag einfach nur, daß du für eine Weile fortgehst. Das Goldfieber verwirrt nur den Geist. Andere Männer könnten
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