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Sonnenfeuer

Sonnenfeuer

Titel: Sonnenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Shaw
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angeborener Klugheit erwächst. Welcher Rang würde solch einem Mann unter Fürst Cheong zugewiesen werden? Er war kein Bauer, aber auch kein Edelmann. Als Höfling wäre er ein erbärmlicher Versager, denn mit seinem Blick würde er nie imstande sein, schmeichlerische Verleumdungen auszusprechen und Intrigen zu spinnen, wie es in diesen Kreisen erforderlich war. Auch unter den Gelehrten und Dichtern hätte er keinen Platz, und ebensowenig konnte Ying sich Cavour als einen hohen Beamten wie seinen Vater vorstellen, der vor dem Schatzmeister und seinen Schreibern einen Kotau machte.
    Ying krümmte sich noch immer vor Scham, wenn er an die Ehrlosigkeit seines Vaters dachte, doch dann überlegte er, was es tatsächlich bedeutete, Oberster Kornbeauftragter zu sein: Ständig war man von der Gunst des Schatzmeisters abhängig, mußte über jedes Saatkorn und den Zehnten, der von jedem kleinen Dorf erhoben wurde, Rechenschaft ablegen und über Zahlen brüten, die wöchentlich vorgelegt werden mußten; dazu die Beschwerden, die Beschimpfungen, die Forderungen nach mehr Ertrag, die Angst vor Bestrafung … Ehrenhaft oder nicht ehrenhaft, Ying fragte sich inzwischen, ob diese Stellung all die Sorgen und die Langeweile wert war.
    Solche Überlegungen waren schon beinahe ketzerisch, aber sie ließen ihn nicht mehr los. Die Ernennung bedeutete hohes Ansehen und ein angenehmes Leben, aber man war trotzdem dem eisernen Griff des Schatzmeisters und des allmächtigen Fürsten Cheong ausgeliefert. Ying stellte fest, daß er schon einen Teil seines kindlichen Glaubens an das schöne Leben unter Fürst Cheong verlor. Er fühlte sich wie ein Vogel, der über der Erde schwebt und das Treiben der Menschen unter sich beobachtet. Aber was für ein Vogel war er? Sicherlich kein Adler oder Falke, doch er konnte weiter blicken als die Spatzen und Lerchen, die zwitschernd in den Gärten herumhüpften. Er mußte über diese Frage meditieren. Und er würde ein philosophisches Traktat über seine neue Sicht der Beamtenlaufbahn verfassen. Die Ehrlosigkeit seines Vaters war keine spaßige Angelegenheit, doch Ying gestattete sich ein dünnes Lächeln. Welche Kühnheit! Den Schatzmeister und somit den Fürsten höchstpersönlich übers Ohr zu hauen! So etwas würde er selbst nie wagen.
    Ying vertiefte sich wieder in die Betrachtung des Kapitäns. Auch für einen Mann von seinem Schlag hätte es im Reich des Fürsten einen Platz gegeben: Offizier in der Armee. An die Soldaten hatte Ying gar nicht mehr gedacht, sie führten ihr eigenes Leben in den Kasernen, die über Cheongs Reich verstreut lagen. Die Generäle trafen sich regelmäßig mit Fürst Cheong und seinen militärischen Beratern, doch in der Gesellschaft waren sie Außenseiter. Sie standen im Rang kaum höher als Banditen, ein lästiges Anhängsel des Gemeinwesens, weiter nichts.
    Ying sah zu, wie Cavour an den Seilen stand und die wogende Dschunke durch die Wellen steuerte. Als er den muskelbepackten Rücken des Kapitäns sah, überkam ihn beinahe ein Lustgefühl, was ihn nicht weiter überraschte. Schon in seiner Jugend hatte er – im Rahmen des Schicklichen – umfassende sexuelle Erfahrungen gemacht, und in dieser Zeit hatten sich seine Neigungen ausgeprägt. Cavour, urteilte er, war ein anziehender Mann, doch ungebildet, unerfahren in den feinen Abstufungen der Lust. Er bewunderte den Körper dieses Mannes schlicht als vollendete menschliche Gestalt, doch er verspürte selbst kein Verlangen nach diesen angeschwollenen Muskeln und gedrungenen Körpern, die die europäischen Maler und Bildhauer so gerne darstellten.
    Er lächelte milde. Ja, der Kapitän entsprach einem General in Fürst Cheongs Armee.
    Wie ein Dieb in der Nacht stahl sich ein Funke Ehrgeiz in Yings Seele; und Ying, der stets gern in sich selbst hineinlauschte, empfing den Eindringling mit großer Vorsicht. Er lauschte seinen heimtückischen Verlockungen, dachte darüber nach, welche Wirkung sie auf ihn hatten, und wägte seinen Mut gegen die Möglichkeiten ab, die sich vielleicht noch eröffnen würden. Zu Hause sprach niemand über die offenkundige Unredlichkeit von Cheongs Generälen, es war gefährlich, solche Ansichten zu äußern, denn sie warfen ein schlechtes Licht auf die Familie des Fürsten. Doch nun hatte Ying die Freiheit, solchen Gedanken nachzuhängen.
    Nachdenklich schritt er zum Bug des Schiffes und blickte zurück über das Meer, wo jenseits des Horizonts Macao lag. »So, Eure Majestät«, murmelte er

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