Sonnenfinsternis: Kriminalroman
fanden dann allerdings schnell heraus…»
«Wer ist wir?»
«Der Patient und ich. Es ist immer eine gemeinsame Anstrengung. Psycho therapie ist mehr eine Kunst als eine Wissenschaft.»
«Was S ie nicht sagen», meinte ich sarkastisch.
Sie ignorierte mich und fuhr fort: «Eben, wir fanden dann rasch heraus, dass seine Beschwerden auf ein schweres Psychotrauma zurückzuführen waren.»
«Können S ie mir den Begriff Psychotrauma definieren, nur damit ich S ie richtig verstehe?»
Sie dozierte aus dem Gedächtnis. «Nach Fischer und Riedesser ist ein Psychotrauma ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situations faktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilf losigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.»
Ich schaute sie an, als hätte sie Chinesisch gesprochen. « Und d as bedeutet ?»
«Das bedeutet, dass jemand ein traumatisches Erlebnis, zum Beispiel einen Unfall, nicht verarbeiten kann und immer wieder durchlebt, weil die Person durch die mit dem Ereignis verbundenen Gefühle der Hilflosigkeit und Unsicherheit überfordert wird.»
«Von der Polizei her kenne ich den Begriff posttraumatische Stö rung . Ist das dasselbe?»
«Nicht ganz, aber die beiden hängen zusammen. Etwa bei zwanzig Prozent der von einem Psychotrauma Betroffenen tritt eine sogenannte posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS, auf. Diese ist definiert als verzögerte Reaktion auf ein schwer belastendes, also traumatisches, Ereignis. Der Schlüssel ist hier das Wort verzögert . Man spricht von PTBS, wenn Symptome einer Reaktion auf ein Psychotrauma länger als einen Monat anhalten. Bei mehr als drei Monaten spricht man von chronischer PTBS. Bei weniger als einem Monat spricht man von einer akuten Belastungsreaktion. Diese dauert allerdings selten mehr als Stunden oder maximal Tage.»
«Weshalb diese Unterscheidung?»
«Je schneller psychotherapeutisch interveniert wird, desto grösser die Heilungschancen.»
«Das heisst, bei einer chronischen PTBS sind die Aussichten am schlechtes ten?»
«Genau.»
«Und Mujo Hasanović? Der fiel in diese Kategorie, nicht ?»
«Ja, das ist richtig . Ausgelöst durch seine Kriegserlebnisse. Bei ihm waren die Symptome vor allem zu Beginn der Therapie sehr ausge prägt.»
«Was für Symptome sind das genau?»
«Na ja, eigentlich ist PTBS ein Sammelbegriff für verschiedene psychische und psychosomatische Symptome, die je nach Ereignis, Zeitpunkt und Dauer unterschiedlich stark ausgeprägt sein können.»
«Eben, was für Symptome?»
«Nach dem DSM…»
«Entschuldigen sie», unterbrach ich sie erneut, « was ? Ich verstehe leider nur Bahnhof, wenn S ie in Abkürzungen sprechen.»
Sie verzog keine Miene, als sie erklärte: « Also, d as DSM ist das diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen der American Psychiatric Association . Ein Standardwerk in unserem Metier. Also, gemäss dem DSM sind die drei diagnostischen Kriterien Intrusion, Vermeidung und Übererregung.»
«Und auf D eutsch?»
«Intrusion bedeutet, dass das Ereignis in den Alltag der Person eindringt.»
Das war mir immer noch zu undeutlich. «Und wie drückt sich das aus?»
«Der Patient oder die Patientin durchlebt Nachhallerinnerungen…»
«Flashbacks?»
«Genau, sogenannte Flashbacks . Ausserdem ein anhaltendes Gefühl des Be täubt seins, emotionale Stumpfheit und Gleichgültigkeit gegenüber anderen Men schen, Teilnahmslosigkeit, Freudlosigkeit… alles Mögliche. Im E rsten Weltkrieg sprach man in Deutschland von den sogenannten Kriegszitterern. Das waren Soldaten, die unkontrolliert zitterten. Ausserdem konnten sie nicht stehen bleiben, sie assen nicht und hatten panische Angst vor Alltagsgegenständen wie Schuhen oder Hüten. Alles Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung aufgrund der Kriegserfahrungen.»
«Und was passierte mit ihnen?»
«Nichts. Damals gab es noch keine Traumatherapie. Die Patienten blieben ein Leben lang pflegebedürftig. PTBS wurde erst 1980 überhaupt als Diagnose ins DSM aufgenommen.»
«Und die anderen zwei Kriterien? Vermeidung und Über er regung?»
«Der Patient vermeidet für eine gewisse Zeit oder auch dauerhaft Aktivitäten, die an das Trauma erinnern. Zum Beispiel fahren viele Opfer eines Zugunfalls eine Weile nicht mehr mit der Bahn.»
In meinem Kopf machte es Klick . «Ich habe von Mujos Ehefrau ge hört, dass er
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