Sonnenfinsternis: Kriminalroman
in der Schweiz überhaupt davon sprechen kann. Ich habe nur wenig Fälle dieser Art, die meisten meiner Patienten haben in dem Sinne normale Gebrechen.» Sie schrieb mit ihren Händen zwei Gänsefüsschen in die Luft um das Wort normal .
«Und wie lange war er bei I hnen in Behandlung?»
«Eine ganze Weile, warten S ie…» Sie konsultierte die Akte vor ihr und antwortete dann: «Fast sechs Jahre. Von Mai 1999 bis Februar 2005.»
Erstaunt hakte ich nach: «Er kam erst 1999 zu ihnen in Behand lung?»
«Ja.»
«In die Schweiz kam er aber schon Jahre zuvor. Wieso so spät?»
«Machokomplex, etwas überspitzt gesagt. Er ist in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der Männer nicht über ihre Gefühle sprechen und keine Hilfe brauchen.»
«Und wieso dann der Sinneswandel?»
«Keine Ahnung. Vielleicht dachte er einfach, es sei an der Zeit. Vielleicht hat ihn auch seine Frau überzeugt. Oder Freunde. Ver trauens per sonen. Was weiss ich.»
Ich ergänzte meine Notizen. Dann fragte ich: «Und wieso hat er aufgehört. War er geheilt?»
«Nicht vollständig, aber die meisten Symptome verschwanden im Lauf der Therapie.» Sie schlug ihre wohlgeformten Beine übereinander.
Wir spielten weitere zehn Minuten dieses Frage-und-Antwortspiel, ohne dass ich noch etwas Brauchbares erfahren hätte. Schliesslich spielte ich meine letzten zwei Trümpfe aus. Ich öffnete mein Notizbuch und riss eine leere Seite heraus. Dann schrieb ich die Namen Zlatan Begić und Luka Princip untereinander darauf, schob den Zettel zu Dr. Bron hinüber und fragte: «Hat Mujo vielleicht je einen dieser Namen erwähnt?»
Sie nahm den Zettel schweigend entgegen und blätterte eine Weile in Mujo Hasanovićs dickem Patientendossier hin und her. Nach ein er halben Minute oder so stiess sie plötzlich ein lautes «Hm m! » aus und blätterte ein paar Mal vor und zurück . Dann verkündete sie : «Ich wusste es! Ja, das hat er tatsächlich. Und zwar beide. »
«Was, beide?» Ich hielt unwillkürlich den Atem an.
Sie nickte. «Ja, beide.»
«Und steht da noch mehr drin?»
Sie nickte erneut mit Nachdruck, so dass ihr Pferdeschwanz auf und ab hüpfte.
«Und wäre es vermessen zu sagen», fuhr ich fort, «dass das Weiterge ben dieser Information an mich durchaus im besten Interesse des Ver stor benen wäre?»
Sie überlegte länger, als mir lieb war, aber schliesslich nickte sie erneut und sagte: «Also gut.» Dann warf sie einen prüfenden Blick in das Dossier vor ihr und gab mir die gewünschte Auskunft. «Von Princip weiss ich nur, dass Mujo Hasanović ihn aus dem Krieg kannte, mehr nicht. Begić war vor dem Krieg ein Nachbar Hasanovićs in seinem Heimatort in Bosnien.»
Das ergab für mich keinen Sinn und ich fragte: «Aber wieso ist der Name eines einfachen Nachbarn Gegenstand seiner Therapiesitzun gen?»
Sie blickte mich mit ihren hypnotischen Augen so lange schweigend an, dass ich schon dachte, sie würde nicht antworten, aber schliesslich sagte sie fast trotzig : «Begić und Hasanović waren die einzigen zwei Überlebenden eines Massakers in ihrem Heimatdorf zu Beginn des Kriegs.»
Nun war es an mir, sie anzustarren. Ich war sprachlos. Sie nickte nur. Dann schwiegen wir beide. Damit hatte ich nun nicht gerechnet. Schliesslich sprach ich aus, was wir beide dachten: «Scheisse! Kein Wunder, dass er traumatisiert war!»
Mareille Bron schaute mich nachdenklich an und sagte dann: «Und das war bei weitem nicht alles, aber…»
«Aber das ist wieder Teil seiner Privatsphäre, nicht wahr?», entgegnete ich sarkastisch.
«Schauen S ie», entgegnete sie ungerührt, «ich bewege mich so schon an der Grenze des ethisch Vertretbaren.»
Ich holte tief Luft . «Schon gut.» In den nächsten Minuten besprach ich noch ein paar Anschlussfragen mit ihr, aber sie wusste weder, wie Hasanovićs Heimatdorf hiess, noch war irgendwo in ihrem Dossier notiert, wer Princip war. Ein weiterer Nachbar? Ein Kriegskamerad? Ein Freund?
Meine Stunde war noch nicht um, aber ich war nicht mehr in der Stimmung zum Reden. Also stand ich auf und verabschiedete mich von ihr. Dabei warf sie einen prüfenden Blick auf meinen linken Ringfinger und bemerkte wohl das Fehlen eines Eherings. Auf jeden Fall öffnete sie eine Schublade, nahm eine ihrer Visitenkarten heraus, schrieb ihre Handynummer auf die leere Rückseite und steckte sie mir zu.
«Hier», sagte sie, «wenn S ie mal über leichtere Themen reden möchten…» Nach einer Kunstpause ergänzte sie mit einem vielver
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