Sonnenfinsternis: Kriminalroman
plötzlich in der erst im Februar neu geschaffenen serbischen Gemeinde Raj lo vać lag. Einige der Nachbardörfer wie Bojnik, Dobrosevići oder Mihajlevići hatten zumindest eine gemischte, wenn auch serbisch dominierte Bevölkerung, aber der grosse Rest wurde fast ausschliesslich von Serben bewohnt.
Begić seuf z te. Irgendwie schienen alle Dörfer in der Region in letzter Zeit schleichend von einer Art Kriegspsychose erfasst worden zu sein. So hatten manche seiner serbischen Nachbarn vor einiger Zeit damit begonnen, bei Festen und Feiern vor allem nationalistische Weisen zu singen, von denen viele ganz direkte Drohungen gegen ihre muslimi schen Nachbarn enthielten. Erst kürzlich hatte Begić mit eigenen Ohren gehört, wie eine Gruppe Halbstarker Lieder gesungen hatte, in welchen die ‹ serbische Nation › dazu aufgefordert wurde, sich zu erheben und ihr Geburtsrecht in Anspruch zu nehmen. Ein anderes Lied hatte von einem türkischen Mädchen gehandelt, das vor einer Moschee schwor, nur Serben zu lieben. Auch waren in den letzten Monaten eine ganze Reihe der serbischen Familien im Dorf, mit denen er jahrzehntelang friedlich Seite an Seite gelebt hatte, nach Vogosca, Kotorac oder in eines der anderen von den Serben gehaltenen Dörfer geflohen.
Begić konnte sich nicht vorstellen, weshalb. Niemand hier wollte etwas anderes als in Frieden leben und in Ruhe gelassen werden. Er schaute sich um und atmete die herrliche Morgenl uft tief ein und aus. Hier war sein Leben. Er liebte die grünen, von Mischwald gesäumten Hügelzüge. Er liebte die von Birken gesäumten Feldwege. Er liebte die hohen rechteckigen Häuser mit ihren weissen Fassaden und ihren symmetrischen, roten Terrakottadächern. Er liebte das gemässigte Klima und die Abwechslung, welche die wechselnden Jahreszeiten alle drei Monate brachten. Und vor allem liebte er die Leute hier. Fast alle der jüngeren Dorfbewohner waren einmal seine Schüler gewesen.
Im Süden erhob sich der fünfzehnhundert Meter hohe Berg Igman, an dessen Fuss die Bosna entspringt , einer von Bosniens drei grossen Binnenflüssen. Nur acht Jahre zuvor waren dort die Skisprungwett be wer be der Winterolympiade ausgetragen worden. Im Osten dehnte sich Sarajevo wie eine Schlange entlang der Miljacka von West nach Ost im Talkessel des Dinarischen Gebirges aus. Dahinter erhob sich der Trebević, Sarajevos fast tausendsiebenhundert Meter hoher Hausberg, in unmittelbarer Nachbarschaft des Jahorina-Gebirgszugs, der sich gute dreissig Kilometer weit bis nach Goražde erstreckte. Es war ein so gewohnter Anblick, dass Begić nur schwer glauben konnte, dass diese Berge nun voller serbische r Artilleriestellungen sein sollten. Aber das dumpfe Grollen der sporadisch in das Stadtzentrum einschla gen den Granaten und die dunklen Rauchsäulen konnte er nicht ignorieren.
Auch in seinem Dorf waren die Spannungen in den letzten Monaten immer weiter gestiegen. Bereits im März hatten die Serben bei Gesprächen zwischen den lokalen Politikern gedroht, die Muslime anzugreifen, sollten sie das Dorf nicht freiwillig verlassen. Statt zu gehorchen, hatten diese einen lokalen Krisenstab und eine Miliz aufgestellt, welche rund um den muslimischen Teil des Dorfes Barrikaden errichtet hatte. Daraufhin hatten die Serben an anderen Orten in der Umgebung Strassensperren erstellt. Auch ihm selbst war schon mehrfach die Durchfahrt verweigert worden. Er konnte es immer noch kaum fassen.
Dann, im frühen Mai, waren die ersten Freischärler eingetroffen und hatten sich im serbischen Teil des Dorfes breitgemacht. Ein paar Tage später hatten einige Veteranen der bosnischen Armee sowie ein gutes Dutzend Flüchtlinge aus Bratunac und Bioca die Territorialverteidigung in Ahatovići verstärkt . Sie waren Ende April festgenommen und gerade erst ausgetauscht worden . Ihre Verfassung war schlimm , sowohl physisch wie psychisch: v erzweifelt, unterernährt, grün und blau geschlagen, mit schwärenden Wunden am ganzen Körper. Einige hatten gebrochene Rippen, und mehreren waren nationalistische serbische Symbole in die Haut geritzt worden. Begić hatte es mit eigenen Augen gesehen, sonst hätte er es nicht geglaubt.
Mit den Neuankömmlingen hatte sich die Zahl der muslimischen Verteidiger zwar von fünfundneunzig auf etwa hundertzwanzig erhöht, aber auch so war die gegnerische Übermacht immer noch erdrückend, und daher hatte der Krisenstab vor einer Woche beschlossen, Frauen, Kinder und Alte zur Sicherheit in die
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