Sonnenfinsternis: Kriminalroman
der folgenden Monate wurde der muslimische Ostteil Mostars durch Artillerie feuer fast komplett zerstört. Tausende Zivilisten wurden dabei verletzt oder getötet.» Ivica redete sich in Rage. «Oder dieses Beispiel: Zwischen May 1992 und April 1993 wurde die muslimische Bevöl ke rung des Lašva-Tals systematisch vertrieben, zahlreiche Kriegsver bre chen inklusive. Oder das: Im Januar 1993 wurden etwa fünfzig Zivilis ten beim Angriff der HVO auf Kadića Strana getötet, den bosniakischen Teil des Dörfchens Busovača. Oder das: Im April 1993 massakrierte die HVO über hundertzwanzig Bosniaken beim Angriff auf das Dorf Ahmići. Das jüngste Opfer war ein dreimonatiges Kleinkind, das älteste eine sechsundneunzigjährige Frau. Ebenfalls im April 1993 wurden rund fünftausend Menschen aus Vitez vertrieben. Gut tausendzweihundert wurden verhaftet und hundertzweiundsiebzig ermordet, viele von ihnen in ihren eigenen Wohnungen. Oder wie wär’s damit: Im Oktober 1993 griffen kroatische Kräfte das Dorf Stupni Do in Zentralbosnien an und massakrierten die gesamte muslimische Bevöl kerung. Die Frauen wurden vor ihrer Ermordung allesamt verge waltigt.»
Ich legte ihm die Hand auf den Arm und sagte beschwichtigend : «Ivi.»
Er ignorierte mich. «Und weisst du, auch die Bosniaken waren davor nicht gefeit. Sie haben zwar behauptet, dass die ausländischen Mudschahed d in für Kriegs verbrechen verantwortlich waren, aber von denen gab’s nur ganz wenige. Also müssen auch reguläre Verbände an solchen Schweinereien beteiligt gewesen sein. Zum Beispiel überfielen zwischen 1992 und 1995 bosniakische Streitkräfte mindestens fünfzig serbische Dörfer in Ostbosnien. Dabei richteten sie massive Zer störungen an und vertrieben die serbische Bevölkerung. Gefangene wurden oft gefoltert und ermordet, unter anderem in der Polizeistation von Srebrenica.»
«Das gleiche Srebrenica, wo später..»
Er nickte müde. «Ja, das gleiche .»
«Also sind alle Seiten gleich schuldig?»
Er schüttelte den Kopf. «Moralisch gesehen vielleicht schon . A ber die Zahl der bekannt gewordenen Verbrechen ist schon eher einseitig verteilt. Es gab nach dem Krieg mehrere Untersuchungen, und sie kamen alle zum Schluss, dass zwischen achtzig und neunzig Prozent davon durch die Serben verübt worden waren. Von den rund hundertzweitausend identifizierten Opfern des Krieges waren fast sechzig Prozent Moslems, davon mehr als die Hälfte Zivilisten. Aber auch bei den Kroaten, die etwa fünfeinhalbtausend Soldaten verloren, und bei den Serben mit rund vierzehntausend getöteten Soldaten lagen die zivilen Opfer höher als die militärischen.»
Er verstummte, und auch ich schwieg erschüttert. Zum ersten Mal verstand ich Ivica in mancherlei Hinsicht vollständig.
In diesem Moment begann der alte Mann hinter uns zu sprechen.
Kapitel 27
Zentralbosnien
1992
Der laue Früh sommer morgen versprach ein en schöne n Tag. Zlatan Begić war früh aufgestanden, um seinen Unterricht vorzubereiten und seine Hühner zu füttern. Trotz der widrigen Umstände versuchte er, seinen gewohnten Tages rhyth mus so gut wie möglich b eizu be halten.
Mit Ausnahme seiner in Sarajevo absolvierten Ausbildung hatte der fünfund vier zig jährige Primarlehrer sein ganzes Leben in Ahatovići verbracht. Das kleine zentral bosnische Dorf nördlich des roten Flusses, der Miljacka , war seine Heimat , und er hatte keine Absicht, diese wegen der Differenzen einiger Politiker zu verlassen. Sporadische Bewaldung unterteilte das Dorf in vier Abschnitte, drei davon mehrheitlich von Muslimen wie ihm bewohnt. Obwohl die Siedlung nur wenige hundert Einwohner hatte, erstreckten sich die typisch bosnischen Häuser über mehrere Hügel. Sie waren in lockerer Forma tion angeordnet und es gab keine eigentlichen Strassenzüge mit eng zusammengebauten Gebäuden wie in einer Stadt.
Begićs Haus befand sich etwas abseits des Dorfkerns an einem kleinen Waldstück. Sein Arbeitsplatz, die örtliche Schule, war nur einige hundert Meter entfernt. Er betrachtete das am Horizont liegende Sarajevo nachdenklich. Sein Verhältnis zur Stadt war kompliziert. Er mochte sie, aber nur aus Distanz. Das Grossstadtleben war nichts für ihn. Hier in Ahatovići kannte jeder jeden, und das war gut so. Keine Geheimnisse , keine Probleme.
Ahatovići mit seinen über neunzig Prozent muslimischen Ein wohne r n war die Ausnahme in der Region, auch wenn es seit einer administrativen Neu organi sa tion nun
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