Sonnenfinsternis: Kriminalroman
einzelne Schüsse aus anderen, leichteren Waffen, die wie Jagdgewehre klangen. Das musste die lokale Miliz sein. Erschüttert und mit einem Gefühl der Ohnmacht kehrten s ie in den Keller zurück.
Während der nächsten Stunden konnten sie durch die leicht geöffne te Keller tür hören, wie das serbische Gewehrfeuer immer näher kam, ab und zu von kleine ren Explosionen begleitet, die wohl von Handgranaten stammten . Die Ant wort schüsse der Verteidiger wurden weniger und weniger und hörten schliesslich ganz auf. Dann schloss jemand die Tür und verbarrikadierte sie von innen . Im Keller wurde es dunkel. Die plötzliche Ruhe war gespenstisch. In ihrer Angst schwiegen die wie Vieh zusammengepferchten Menschen automatisch, und nur das unter drückte Wimmern der Alten und das leise Weinen einiger Kinder durchdrang gele gent lich die bleierne Stille.
Irgendwann wurde dann von aussen laut an die massive Tür gepol tert und eine wütende Stimme verlangte, sie sollten gefälligst aufma chen. Niemand regte sich. Begić hielt unwillkürlich den Atem an. Nach ein paar Minuten verkündete eine andere Stimme, die Tür werde aufgesprengt, wenn die Verteidiger sie nicht augenblicklich öffneten . Nach kurzer Beratung kamen die Männer im Keller überein, dass es sinnlos war, noch weiter auszuharren. Die Verteidigung hatte offensichtlich versagt und es gab keinen Zweifel daran, dass die Drohung ohne Rücksicht auf die Kellerinsassen wahr gemacht werden würde.
Resigniert schloss Mujo auf. Sobald die Tür offen war, forderte sie die gleiche Stimme auf, einzeln und mit erho benen Händen herauf zu kommen. Auch die Kinder. Begić stieg als einer der ersten die Treppe zur Strasse hinauf. In der Ferne hörte man immer noch spora di sches Gewehrfeuer. Oben angekommen, bemerkte er unter der wartenden Gruppe von etwa zehn Personen in den olivgrünen Uniformen der JNA-Reserve einen alten Bekannten: Marko, den neunzehnjährigen Sohn seiner ehemaligen Nach barn. Da Begićs Haus etwa auf Höhe der Trennlinie zwischen dem muslimi schen und dem ehemaligen serbi schen Teil des Dorfes stand , hatten sie fast zwanzig Jahre lang Seite an Seite gelebt, bevor Markos Familie vor gut drei Monaten weg gezogen war. Begić hatte den Jungen sogar ein paar Jahre lang unterrichtet. Sofort schöpfte er neue Hoffnung. Er rief Markos Namen, eilte zu ihm hin und packte ihn aufgeregt am Arm. Dieser betrachtete ihn zuerst ersta u nt, dann ange widert und versuchte ihn abzuschütteln, aber Begić war so aufgewühlt, dass er den Jungen eisern festhielt, während er auf ihn einredete. Nach ein paar Sekunden machte ein anderer Soldat dem Spuk ein Ende, indem er Begić von hinten mit dem Gewehrkolben niederstreckte. Als dieser benommen am Boden lag und sich auf zu setzen versuchte, spuckte ihn Marko an und ging wortlos weg. Da dämmerte es Begić endlich , dass er von seinen ehemaligen Nachbarn keine rlei Hilfe erwar ten konnte.
Ein grosser, bärtiger Kerl mit tarnfarbener Splitterschutzweste über seiner olivgrünen Uniform und einer Šajkača auf dem Schädel, der traditionellen serbischen Kopfbedeckung, wies ihn an, sich zu den Anderen zu stellen. Begić rappelte sich hoch und humpelte zur trostlosen Gruppe Gefangener hinüber, die sich unter dem wachsamen Blick der bis an die Zähne bewaffneten Serben vor dem Rathaus versammelt hatten. Er stellte sich zu seiner Frau hin und zischte ihr zu, allen Aufforderungen sofort und ohne Widerrede nachzukommen.
Die Hände hinter dem Kopf verschränkt , konnte er nun sehen, dass die Angreifer den Dorfkern komplett eingenommen hatten. An mehre ren Kreuzungen standen Schützenpanzer, die mit ihrer eckigen grauen Form, ihren vier massiven Rädern, den zwei wie die zusammenge knif fe ne n Augen eines Urzeitmonsters aussehen den vorderen Ausguck fenstern und den schweren Maschinengewehren ein beklemmendes Symbol für die überlegene serbische Ausrüstung darstellten. Etwas weiter vorn führten drei Serben eine Gruppe gefesselter Milizange höri ger mit vorgehaltener Waffe ab. Sonst war von den Verteidigern nichts zu sehen. Plötzlich schrie jemand in der Ferne durch ein Megaphon: «Gebt auf, Balije, oder wir töten eure Frauen und Kinder!»
An die abwertende Bezeichnung für Muslime hatte sich Begić ge wöhnt, aber der Rest schockierte ihn. Die Drohung schien ihm unfass bar, fast surreal, aber gleichzeiti g hatte er doch Angst, dass sie ernst ge meint war. Anscheinend war er nicht der Einzige, denn bald darauf hör te der
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