Sonnenfinsternis: Kriminalroman
schlürfend in der Mensa des Universitäts geländes im Irchel park wieder. Dieser befand sich am westlichen Rand des Zürichbergs, einem der vielen Hügel in und um die Stadt Zürich, und lag zwischen Oerlikon und der Innenstadt.
Steiner wartete bereits auf mich. Er begleitete mich zur Winter thurer strasse 190, wo ein vierstöckiger, eckiger Steinbau im neoklassizistischen Stil das Institut beherbergte. Das helle Gebäude erinnerte mich stark an die alte Infanterie-Kaserne in Herisau. Steiner hatte uns offensichtlich angekündigt, da uns am Haupteingang eine müde aussehende jüngere Dame, die mir als Doktor Regina Vetach vorgestellt wurde, in Empfang nahm und uns in den Obduktionssaal begleitete. Doktor Vetach war die zuständige Assistenzärztin. Sie trug einen zu engen weissen Laborkittel, der ihre sportliche Figur nur halb verbarg, war auffallend gross – mindestens einsachtzig – und hatte ihr glattes hellblondes Haar zu eine m zerzausten Pferdeschwanz zusammen genommen. Sie war sichtlich unge halten darüber, wegen uns noch hier sein zu müssen. An einer Obduktion nahmen normalerweise ein Rechtsmediziner, ein Assistenzarzt, ein Präparator und ein Medizin student teil, wobei natürlich alle auch weiblich sein konnten. Da die Ob duktion aber abgeschlossen war, erachtete es die zuständige Rechtsmedizinerin Prof. Hinterberger als ausreichend, wenn die Assistenzärztin den Laien die Resultate erklärte.
Üblicherweise wurden Leichen in einem der vier Kühlschränke auf be wahrt, aber es war bereits alles für uns vorbereitet. Im Obduktions saal lag ein lebloser Körper auf einem silberfarbenen Rolltisch bereit, am grossen Zeh eine Etikette mit dem Namen der zuständigen Staats an wältin. Eigentlich hätten darauf auch Angaben zur Person stehen müssen, aber da der Tote bisher nicht identifiziert worden war, fehlten sie. Es roch süsslich. Ich wusste aus Erfahrung, dass sich dieser Geruch rasch und hartnäckig in den Kleidern festsetzen würde.
Die sterblichen Überreste vor mir lagen nackt und irgendwie würde los auf dem kalten Metall. Der ganze Körper war mit Verfärbungen und kleineren und grösseren Wunden übersät. Ober- und Unterlippe wiesen deutliche, schwarz verfärbte Einstichspuren und mehrere Lücken auf, die wohl auf das Konto der Fische gingen. Über Brust und Bauch erstreckte sich eine lang gezogene Naht in Form eines grossen Ypsilons. Ich hatte so etwas oft genug gesehen. Bei einer Obduktion öffnete der untersuchende Mediziner Schädel-, Brust- und Bauch höhle, um die entsprechenden Organe freizulegen. Dies geschah üblicherweise durch den Y-Schnitt, bei welchem von beiden Schlüsselbeinen schräg zum Brustbein und von dort gerade bis zum Schambein geschnitten wurde. Durch die Entfernung des Brustbeines und der benachbarten Rippen konnte dann die sogenannte ‹innere Besichtigung› durchgeführt werden. Der harmlose Klang dieses Begriffs hatte mich schon immer gestört. Bei dieser Prozedur wurden nämlich die inneren Organe nicht nur ‹besichtigt›, sondern entnommen, gewogen und untersucht. Im Anschluss daran wurden dann dem oder der Toten Organe und übriges Gewebe wieder eingesetzt und die Schnitte vernäht. Zuletzt wurde die Leiche gewaschen. Diese Schritte unternahm man, um den Angehörigen bei der Beerdigung die Abschiednahme am offenen Sarg zu ermög li chen. Normalerweise wurde auch eine toxikologische Untersuchung durch ge führt, bei welcher sowohl legale als auch illegale Drogen sowie allfällige andere Gifte bestimmt wurden.
Der Tote hatte eine sogenannte Waschhaut, also die Art schrumpeli ge Haut, die man bei langen Bädern erhält. Diese war typisch für Was serleichen und konnte zur Bestimmung der im Wasser verbrachten Zeit herangezogen werden. An Fingern und Handflächen des Toten hatte sie sich bereits abzulösen begonnen. Gesicht und Hals waren schmutzig-blau, die Brust und der Bauch jedoch wiesen noch keine grünlich-schwarzen Verfärbungen auf, was bedeutete, dass die Leiche sicher weniger als einen Monat im Wasser gelegen hatte. Hasanović war vor nicht ganz zwei Wochen verschwunden.
Als Erstes kontrollierte ich die Narben. Sie waren tatsächlich da, und das Muster war genau so, wie es Jasmina Hasanović beschrieben hatte: d rei runde auf seinem rechten äusseren Oberschenkel – je etwa so gross wie eine Einfranken münze – und eine rund fünf Zentimeter lange, schmale Narbe unter seinem linken Schlüsselbein. Auch das beschriebe ne wulstige Narbengewebe war
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