Sonnenlaeufer
sah durch die Augen des Kellermeisters noch einmal die Versammlung der Vasallen in Stronghold. Er hatte das schon früher getan und sich der Augen und Ohren dieses Mannes bedient, um für Roelstra zu beobachten. Aber sie hatte ihn dabei erwischt. Er stöhnte auf, als er in Gedanken ihr Gesicht wieder vor sich sah – stolze Züge, zu ausgeprägt für herkömmliche Schönheit, bohrende grüne Augen, rotgoldenes Haar. Doch mehr als ihr Anblick entsetzte ihn die Erinnerung an die Kraft des Geistes. Wie geschickt sie den Mondschein zu einer Falle verwebt hatte, bis er aufgeschrien, Lady Andrade angerufen und schließlich die Kontrolle verloren hatte.
Er machte eine Pause, um sein rasendes Herz zu beruhigen, und ließ die Droge stärker wirken. Er kannte jetzt die Farben des Mädchens, doch auch sie mochte in der Lage sein, die seinen zu identifizieren. Aber wer war sie? Der Kellermeister war lange seinen Pflichten in der Küche nachgegangen, deshalb hatte Crigo nicht gesehen, warum sie einen Platz am Tisch des Prinzen eingenommen hatte. Die anderen Faradhi’im hatten an anderen Tischen in der Großen Halle gesessen. Warum war sie herausgestellt worden?
»Wie ich sehe, bist du endlich wach.«
Auf den Klang von Roelstras Stimme hin zog sich Crigo in eine verkrampfte, sitzende Haltung hoch. Der Hoheprinz stand mitten auf dem Teppich. In seiner violetten Seidentunika sah er prächtig aus, wütend und dominant. »H-herr …«, stammelte Crigo.
»Du warst zwei Tage lang bewusstlos, und selbst als du zu dir gekommen bist, hast du nichts Vernünftiges von dir gegeben, sondern bist sofort wieder in Bewusstlosigkeit verfallen. Erzähl mir endlich, was in jener Nacht geschehen ist.«
»Ich weiß es nicht.« Crigo zog die knochigen Knie bis an sein Kinn und schlang die Arme darum. »Ich habe zugesehen, wie Ihr mir aufgetragen habt. Da ist aber ein Mädchen gewesen …«
»Was für ein Mädchen? Wie sah sie aus?«
»Grüne Augen, rotes Haar. Eine Faradhi .« Er runzelte die Stirn und rief sich das Bild ins Gedächtnis. »Sieben Ringe – nein, sechs, und ein Smaragd, den ihr aber nicht Andrade gegeben hat. Wir – sie – tragen nicht viel Schmuck. Sie war mächtig, Herr, sie hat mich erwischt …«
»Ihr Name?«
Crigo schüttelte den Kopf. »Ich kenne ihn nicht.«
»So lange bist du noch nicht aus der Schule der Göttin fort. Sie muss doch ihre Ausbildung begonnen haben, ehe du fort bist. Denk nach, verdammt noch mal! Sag mir ihren Namen!«
Unaufgefordert tauchte das Bild eines rothaarigen Mädchens vor seinem geistigen Auge auf, eines von einer ganzen Reihe von Mädchen in der Schule der Göttin, die von einem arroganten jungen Lichtläufer wie ihm selbst beaufsichtigt wurden. Und doch erinnerte er sich an sie. »Sioned«, hauchte er.
»Sioned«, wiederholte Roelstra leise. »Eine Faradhi mit dem Namen Sioned … Wenn ich sie von Andrade loslösen kann …«
»Die Lady ist hier?«, stöhnte Crigo.
»Das muss dich nicht kümmern.« Der Hoheprinz trat näher und warf einen Blick in den halbleeren Krug. »Trink aus, Crigo«, forderte er ihn mit kaltem Lächeln auf. »Nach so langer Zeit brauchst du das.«
Der Lichtläufer gehorchte, als Roelstra aus dem Zelt stapfte. Andrade war hier. Entsetzen packte ihn. Doch dann wich dieses plötzlich einer merkwürdigen Freude. Er konnte den Fürsten ruinieren, indem er enthüllte, dass der Faradhi , den sie so viele Jahre hindurch für tot gehalten hatte, noch am Leben war. Dieser Gedanke ließ ihn leise auflachen, und er klammerte sich an ihm fest wie an einem langersehnten Liebhaber. Doch schon im nächsten Augenblick zitterte er und war wieder einmal vollkommen leer, bis auf die Droge. Roelstra hätte ihn niemals hierhergebracht, wenn er Verrat fürchten müsste. Crigo hatte keinerlei Macht, über niemanden, schon gar nicht über den Hoheprinzen. Das Spiel ging, wie immer, allein an Roelstra.
Tobin gab ihrem Gemahl einen solchen Guten-Morgen-Kuss, dass er versuchte, sie zu sich in ihr gemeinsames Bett zu ziehen. Als sie sich lachend wehrte, öffnete Chay die Augen und riss sie dann erstaunt vollends auf. Tobin war vollkommen angekleidet, das Haar zu einem kühlen Knoten auf dem Scheitel ihres Kopfes gedreht, und an ihrem Gürtel hing eine dicke Lederbörse. Chay stöhnte.
»Oh, du meine Göttin! Du willst mich schon wieder arm machen!«
»Und ich werde mich herrlich dabei amüsieren«, grinste sie. »Komm schon, beweg deine müden Knochen. Es ist schon lange nach
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