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Sonnenlaeufer

Sonnenlaeufer

Titel: Sonnenlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Rawn
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bemerkte Andrade. »Und wenn wir schon von Arroganz sprechen: Rohan scheint sich einen Spaß daraus zu machen, mir aus dem Weg zu gehen.«
    »Mutter sagt, er wäre gestern Abend spät für eine kurze Weile in Vaters Zimmer gewesen. Wo er heute morgen ist, weiß ich aber auch nicht.« Sie ließ sich auf eine Bank im Schatten sinken. »Und um deiner Frage zuvorzukommen – ja, ich kenne die meisten seiner Lieblingsplätze, aber ich werde sie dir nicht verraten. Er kommt schon, wenn er bereit dazu ist. Dränge ihn nicht, Tante. Nicht jetzt. Ich mache mir Sorgen um ihn.«
    Andrade zuckte ärgerlich die Achseln und nahm neben ihr Platz. Wahrscheinlich war Rohan nicht in der Verfassung, um mit irgendjemandem zu sprechen, nicht einmal mit seiner Familie, und vor allem nicht mit Andrade. »Irgendwann einmal muss er mir gegenübertreten.«
    »Wie kannst du unterstellen, dass er ein Feigling ist!«
    »Das meine ich nicht. Aber warum ist er nicht bei Zehava?«
    Tobin seufzte. »Ich denke, er ist wie ich und kann einfach nicht glauben, dass Vater im Sterben liegt.«
    Andrade verstand. Am einen Tag noch ein starker, lebhafter Mann, lag Zehava am nächsten Abend im Sterben. Und doch verharrte das Leben schmerzlich in seinem geschundenen Körper und weigerte sich, das Fleisch aufzugeben.
    »Und überhaupt ist es verboten, dass der künftige Prinz seinen Vater sterben sieht«, fuhr Tobin fort.
    »Ein sehr schlechter Brauch. Rohan muss es sehen, sonst wird Zehavas Bildnis sein Leben lang vor seinem geistigen Auge stehen, und sein Vater wird für ihn niemals wirklich tot und verbrannt sein.«
    Tobins schwarze Augen glänzten silbrig unter Tränen wie Regen um Mitternacht. »Du bist die grausamste Frau, die ich jemals kennengelernt habe«, hauchte sie.
    Andrade biss sich auf die Lippen. Dann ergriff sie die Hand ihrer Nichte. »Glaube nur nicht, ich würde nicht um deinen Vater trauern. Zehava ist ein guter Mann. Er hat mir dich und Rohan geschenkt, so dass ich euch lieben konnte wie eigene Kinder. Aber ich bin, was ich bin, Tobin. Und du und ich, wir sind beide Frauen mit Verantwortungsgefühl. Wenn wir die Zeit dazu haben, lassen wir unsere Gefühle zu. Aber jetzt ist dafür keine Zeit. Wir müssen es Rohan sagen.«
    Aber er wich ihr auch für den Rest des Vormittags und Nachmittags aus. Andrade wurde wütend über den Tanz, den er mit ihr aufführte. Es kam dahin, dass sie sich erniedrigen musste, einen Lichtläufer vor seiner Zimmertür zu postieren, der den Auftrag hatte, augenblicklich Nachricht zu geben, wenn der Prinz auftauchte. Ihre übrigen Faradhi’im stellte sie an verschiedenen Orten in der Burg auf, alle mit demselben Befehl. Aber keiner von ihnen brachte eine Nachricht, den ganzen Tag über nicht.
    Der Abend kam, und Andrade war erschöpft. Sie hatte Zehava zweimal versorgt und hatte gehofft – aber eigentlich nicht erwartet –, er werde wach sein. Mehrere Stunden lang hatte sie zusammen mit Milar in der stickigen Hitze an seinem Bett gewacht. In der Abenddämmerung beschloss sie schließlich, zum Turm der ewigen Flamme hinaufzugehen. Vielleicht gab es dort ein wenig Luft, um sich abzukühlen. Stöhnend öffnete sie die Tür des höchsten Raumes, nachdem sie die Treppen erklommen hatte, und fluchte heftig – denn Rohan war in dem riesigen, kreisrunden Raum. Allein.
    Der Schein des kleinen Feuers in der Mitte des Zimmers ließ sein Haar golden schimmern und den Schweiß funkeln, der auf seiner Stirn und in der Vertiefung seiner Kehle stand. Als Andrade eintrat, blickte er ohne Neugier von seinem Platz vor der kleinen Flamme auf.
    »Du hast lange gebraucht, um mich zu finden«, bemerkte er.
    Sie widerstand dem Impuls, mit ihrer Antwort seine Ohren zum Klingen zu bringen. Stattdessen zog sie sich einen Stuhl aus dem kleinen Stapel heran, der an der gegenüberliegenden Wand lehnte, stellte ihn dem seinen gegenüber ans Feuer und starrte in die Flammen. »Nett von dir, dass du dich schließlich doch noch hast finden lassen«, erwiderte sie mit harter, beherrschter Stimme. »Wenn dies auch nicht gerade der angenehmste Ort für ein Gespräch ist – oder der gemütlichste.« Sie deutete auf das Feuer, das Tag für Tag in Gang gehalten wurde.
    »Gemütlich?« Rohan zuckte die Schultern. »Wohl nicht. Ich sehe Vater in den Flammen.«
    »Ein bisschen früh. Er ist noch nicht tot.«
    »Nein. Aber wenn ich nicht Vater sehe, dann sehe ich mich selbst.« Er erhob sich und trat an eine Fensteröffnung. Die Spitzbögen waren offen

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