Sonnenlaeufer
Niemand wusste, was sie als Nächstes tun würde. Neben Roelstras aristokratischen Zügen und Palilas vollem kastanienbraunen Haar besaß Chiana einen eigenartigen Charme, außerdem ein Paar grünbraune Augen, die vor Tränen oder Verschlagenheit glänzen konnten. Andrade und Urival beobachteten sie genau, denn sie vermuteten, dass ihre reizende Art noch Probleme mit sich bringen würde, wenn man sie nicht sorgfältig führte.
Pandsala sorgte für Disziplin. Da sie in ihrer Schwester die Ursache für ihr eigenes Exil sah, ließ sie sich von ihr nicht um den Finger wickeln. Seltsamerweise benahm sich Chiana ihr gegenüber, denn sie wünschte sich die Anerkennung und gute Meinung ihrer Schwester, so war eine Art familiäres Band zwischen den beiden entstanden. In diesem Winter hatte sich Pandsala damit beschäftigt, Chiana das Lesen beizubringen, und schien seither mit ihrem Schicksal viel zufriedener.
Andrade fragte sich, wie lange sie das Paar wohl bei sich behalten musste. Trotz der Umstände ihrer Geburt würde Chiana irgendwann heiraten, und wenn Roelstra schließlich jedermann den Gefallen tat zu sterben, dann würde Pandsala frei sein und tun können, was ihr gefiel.
Der Gedanke an den Hoheprinzen erinnerte Andrade daran, warum sie heute hier heraufgekommen war – nicht, um den Frühling einzuatmen, sondern um zu sehen, was um sie her geschah. Sie warf ihr offenes Haar zurück und schloss die Augen. Sie seufzte vor Vergnügen, als sie über die flachen Weiden von Ossetia ostwärts nach Gilad streifte, wo überflutete Güter repariert wurden; sie warf einen Blick zu den Catha-Höhen, wo Herden zu den reichen Gründen an der Küste getrieben wurden; ein lobender Blick fiel auf die weißen Segel von Lleyns Schiffen, die jetzt wieder regelmäßig ihre Handelsrouten abfuhren, nachdem die Sturmgefahr gebannt war. Im Süden war alles schön und gut, und Andrade lächelte zufrieden.
Aus reinem Vergnügen folgte sie den breiten Flusswindungen nach Norden. Hier empfand sie das Sonnenlicht als kühl, als es auf dem Wasser tanzte. Bis hinauf zu den unteren Hügeln des Großen Veresch-Gebirges flog sie und verhielt hier, um die schneebedeckten Gipfel zu bewundern. Das Vergnügen verging, als sie auf die Felsenburg hinabblickte, und Zorn trat an seine Stelle. Doch der wurde schnell ersetzt von Neugier, als ihr die Stille des Ortes auffiel. Trieb sich Roelstra irgendwo herum? In einer seiner Jagdhütten? Sie konnte nur ein paar seiner Töchter sehen, die sich im Garten aufhielten, nur einige wenige Diener und gerade genug Soldaten, um das Torhaus zu bewachen.
Andrade eilte über die Berge, benommen von dem Strahlen des weißen Schnees unter ihr, und warf dann ihre Stränge westwärts aus, nach Fessenden. Auch für sie hier war es ein harter Winter gewesen, das konnte sie sehen; noch immer lag der Schnee hoch, Fischerboote drängten sich im Hafen, und die Hafenstadt Einar zitterte im kühlen Sonnenschein. Sie würde schon bald Berichte von dem Lichtläufer erhalten, der am dortigen Hofe lebte, und würde erfahren, welche Art von Hilfe Lord Kuteyns Witwe benötigte, um ihr vom Winter verwüstetes Land wieder aufzubauen.
Ein schneller Blick hinüber nach Kierst-Isel machte ihr Freude; die Garnisonen entlang der Grenze hatten in diesem Frühjahr Ruhe, wo sie normalerweise mit ihrem Gezänk beschäftigt waren. Die Erinnerung an Rohans Vorschlag, Grenzen gesetzlich festzulegen, ließ sie lächeln; vielleicht hatten sich Volog und Saumer endlich geeinigt, wem was gehörte. Ein Satz über die breite Bucht zwischen Insel und Festland und sie befand sich über Meadowlord, das vom Schmelzwasser des Frühjahrs aufgeweicht war. Sooft sie sich auch gefragt hatte, warum die alten Faradhi’im die Schule der Göttin gerade an diese neblige Küste gebaut hatten, sooft hatte sie ihnen auch dafür gedankt, dass sie nicht die sumpfige Tiefebene mit den feuchten Sommern und nicht enden wollenden Heerscharen von Insekten gewählt hatten.
Weiter, nach Syr, einem reichen und fruchtbaren Land zwischen Flüssen, dessen Boden dunkel war vom Pflügen und Neubepflanzen – und schließlich ein verklärter Blick auf das Heim ihrer eigenen Kindheit, das Freisassengut Catha, das niemals anderen als ihrer eigenen Familie gehört hatte, von der nie jemand das Knie vor dem Prinzen gebeugt hatte. Beim Tode ihres Vaters war es an Syr zurückgefallen, denn sie selbst hatte jeglichen Anspruch daran aufgegeben, und es lag zu weit von der Wüste entfernt, um
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