Sonnenlaeufer
Zu spät erst hatten sie die Kleine entdeckt. Da sie Chianas Drohung, sie werde Lord Lyells Mannen den ganzen Plan erzählen, ernst nahm, hatte Andrade sie zähneknirschend mitgenommen, wobei sie sich stumme Vorwürfe gemacht hatte, dass sie das Gör überhaupt aufgenommen hatte. Aber nun war es zu spät.
Urival, der wusste, dass sie Hilfe benötigen würden, um die Flüsse zwischen der Schule der Göttin und Syr zu überqueren, hatte gezögert, Schlafkräuter und Lichtläufermagie auf jenen Begleittrupp anzuwenden, der Pandsala zu ihrem Vater geleiten sollte. Andrade war dafür gewesen, diese Dinge schon in der ersten Nacht draußen aufzuknüpfen. Aber heute Nachmittag, als sie eine kurze Rast eingelegt hatten, hatte sie das Nötige getan, und jetzt waren sie frei. Pandsala hätte kaum glücklicher sein können, und Chiana hoppelte auf einem Pferd dahin, das viel zu groß für sie war, und sang lauthals. Weder der Anblick der einen noch der anderen war dazu angetan, Andrades Laune zu bessern.
Die über den Sonnenschein gesandten Nachrichten waren schrecklich gewesen. Die Merida stürmten Tiglaths Mauern mit wütender Regelmäßigkeit. Ihre Pfeile fanden ein paar Ziele, sie verloren ein paar Mann und zogen sich dann bis zum nächsten Überfall zurück. Andrade erkannte die Taktik: ständige Belagerung, um die Bewohner der Stadt mürbe zu machen. Ein offener Kampf regte auf, aber langsame, unaufhörliche Belagerung sorgte für moralische Erschöpfung. Der junge Walvis hatte Pläne, die Versorgungslinien der Merida zu überfallen, um Vorräte für die Stadt zu gewinnen und seinen Truppen etwas zu tun zu geben. Eine Schlacht auf der Ebene wurde ihm jedoch untersagt.
Tobin und die jüngeren Zwillinge waren sicher in Stronghold eingetroffen, als Andrade sich das Schloss jedoch ansah, musste sie feststellen, dass es fast verlassen war. Ein Blick auf die Umgebung von Tiglath zeigte ihr, dass sich eine Gruppe von der Hauptmacht der Merida getrennt hatte und auf dem Weg nach Süden war. Und in Feruche ging das Leben weiter, als wäre alles wie immer und ganz normal. Als wäre die Garnison unterhalb der Burg noch immer voll von Rohans Soldaten. Von Rohan und Sioned gab es nichts Neues. Von beiden war nirgends etwas zu sehen.
Andrade trocknete Hände und Gesicht mit einem sauberen Stück ihres Rockes und trat den Rückweg an. Urivals plötzlicher Warnschrei erklang gerade, als sie oben auf der Anhöhe ankam. Er stand neben dem kalten Feuer, wütend und zerzaust, und hielt Pandsalas leeren Umhang hoch.
»Fort!«, knurrte er. »Diese verdammte Hexe – sie ist fort!«
Chiana saß da, einen Fuß unter sich gezogen, unbeeindruckt von Urivals Wut. Andrade sah die kunstvolle Anordnung von Sätteln, die nach zwei schlafenden Gestalten ausgesehen hatte, wo doch nur eine gewesen war. Sie ertrug Chianas verschlagenes Grinsen gerade fünf Atemzüge lang, dann zerrte sie das Mädchen auf die Füße und schüttelte es.
»Du wusstest es!«
»Ja, Herrin«, bestätigte Chiana und nickte. »Meine Schwester ist natürlich zu unserem Vater gegangen«, fuhr sie fort, als wäre Andrade zu alt und beschränkt, um das Offensichtliche zu erkennen. »Sie müsste inzwischen bei ihm sein. Und sie hat alle Pferde mitgenommen.«
Andrade ließ sie los. Sie wandte sich ab, denn sie wollte nicht, dass Urival die Mordlust sah, die, wie sie wusste, in ihren Augen stand. Pandsalas heulende, händeringende Vorstellung Lyells Hauptmann gegenüber hatte zwar auch ihr Misstrauen wieder geweckt, aber sie hatte sich die ganze Reise über perfekt verhalten, obwohl sie die beiden Lichtläufer jederzeit hätte verraten können. Aber jetzt dies – mit Chiana als Komplizin. Andrade hatte ihnen das Leben gerettet, und sie würden sie ruinieren, denn Pandsala trug jetzt Faradhi -Ringe und würde ihr Können in den Dienst des Hoheprinzen stellen.
Langsam wandte sie sich wieder Chiana zu. Sie sah, wie sich ihre eigene Hand zurückzog. Aber sie schlug nicht zu. Chiana gab ein leises, ängstliches Wimmern von sich.
»Du bist alt genug, um zu begreifen, was hier vorgeht – und alt genug, um zu verraten«, erklärte Andrade ihr mit tödlich ruhiger Stimme. »Ich hätte das von jemandem erwarten müssen, dessen Name ›Verrat‹ bedeutet.«
Ohne mit der Wimper zu zucken, verteidigte sich Chiana, und Trotz blitzte in ihren Augen. »Mein Vater …«, setzte sie stolz an.
»Ist ein wandelnder Toter.« Andrade wandte sich Urival zu. »Der Tradition zuliebe habe ich
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