Sonnenlaeufer
wo Schloss und Klippe zusammentrafen. Ein Spalt im Stein. Eine dünne Messerschneide, um den unsichtbaren Spalt zu bearbeiten. Ein Augenblick, in dem Ostvels Atem vor Angst schneller ging, so groß war die Furcht, dass der Mechanismus zu alt und zu lange unbenutzt geblieben sein könnte, um noch zu funktionieren.
Die Platte aus grob behauenem Felsen glitt geräuschlos zur Seite. Sioned schlüpfte als Erste hindurch, konzentrierte sich einen Moment und beschwor einen Fingerbreit Feuer, mit dessen Hilfe sie sehen konnte. Als Tobin und Ostvel neben ihr in den schmalen Gang traten, untersuchte sie die Konstruktion des Eingangs. Die Göttin allein wusste, wie lange das alles nicht mehr angerührt worden war, aber der Erbauer war so geschickt gewesen, dass das System aus Gewichten und Scharnieren noch immer perfekt funktionierte.
Die winzige Flamme wies ihnen den Weg durch den Gang. Sie fiel auf seit langem leere Fackelhalterungen, die an den Wänden durchrosteten. Der Boden stieg leicht an, machte eine scharfe Kehre, fiel dann ab, und hier und dort hatte man Planken über das Wasser gelegt, das aus der unterirdischen Quelle sickerte, die das Überleben von Feruche sicherte. Aber es gab keine Ratten, keine Spinnweben, nicht das leiseste Anzeichen von Leben hier unten.
Endlich erreichten sie eine weitere schwere Steintür und gelangten durch sie an einen Ort, den Sioned nur zu gut erkannte. Hier war sie in einer Zelle festgehalten worden, fern vom Licht. Ein Schauder lief an ihrem Rückgrat hinab, als der Albtraum der Farblosigkeit durch ihre Erinnerung zuckte, und sie ließ die kleine Flamme ein wenig höher brennen, ein wenig heller.
»Wer ist da?«
Tobin unterdrückte ein Stöhnen und wechselte einen wilden Blick mit Ostvel, der mit einem scharfen Zischen sein Schwert zog. Sioned schien es nicht zu bemerken. Sie schritt vorwärts, als der Wächter um eine Ecke bog.
Er schluckte und erbleichte im Schein des Lichtläufer-Feuers. »Ihr!«
»Ja«, murmelte sie. »Ich kann mich auch an dich erinnern.« Sie deutete mit einem langen, ringlosen Finger auf ihn, und ein neues Feuer züngelte nur eine Handbreit von seiner Brust entfernt. Er presste sich flach an die Wand, riss die Augen auf und starrte sie an, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet.
»Sioned …« Ostvel legte eine Hand auf ihren Arm. Sie schüttelte ihn ab und lächelte; was er in ihren Augen sah, ließ ihn krampfhaft schlucken. Aber dann trat er vor und senkte seine Klinge in die Kehle des Mannes. Der Wächter glitt an der Wand nach unten. Noch immer starrend. Tot.
Sioned wirbelte zu Ostvel herum. Wut stand in ihrem Gesicht. Er wischte die Klinge ab und begegnete ihrem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. »Niemand darf wissen, dass wir hier gewesen sind – nicht, wenn unser Plan funktionieren soll. Jeder, der uns sieht, muss sterben – und ich werde das Töten nicht Euch überlassen, Faradhi .«
Der Ausdruck in Sioneds Augen erschreckte Tobin. Sie hatte ihn im Frühjahr schon bei Chay gesehen, dieses dunkle Funkeln, das Tod verhieß. Sie ergriff Sioneds Hand und wollte sie nicht loslassen. »Ostvel hat recht. Sioned, wir müssen uns beeilen.«
Der feuergoldene Kopf nickte einmal. Sioned sagte nichts, als sie ihre Finger aus Tobins Hand zog. Sie ließ das Feuer verlöschen und hastete auf die Treppe zu. Tobin wechselte einen weiteren besorgten Blick mit Ostvel – der sein Schwert nicht wieder eingesteckt hatte.
Feruches Ruf als uneinnehmbare Burg hatte die Wachen leichtsinnig gemacht. Die paar Wächter, die nicht an den weinseligen Feierlichkeiten teilnahmen, waren leicht zu umgehen; Tobin schuf einen leichten Luftzug, der ihre Aufmerksamkeit ablenkte, wenn sie einen Vorhang flattern oder ein Fenster klappern ließ. Sioned kümmerte sich nicht darum. Sie war überzeugt, dass Ostvel die Wachen, die Tobin nicht abzulenken vermochte, für immer zum Schweigen bringen würde. Aber das Schwert schmeckte auf dem Weg zu Ianthes Gemächern kein Blut mehr.
Sioned blieb an einem hohen Fenster stehen, von dem aus man den Hof überblicken konnte. Der Schein des Freudenfeuers unten im Hof erhellte ihr Gesicht. Tobin packte Ostvels Arm, als Sioned die Hände hob.
»Sioned – nein!«, rief Tobin aus.
Ein unnatürliches Licht erschien jenseits der Fenster, das Gold und Rot eines Lichtläufer-Feuers. Tobin starrte entsetzt auf den Anbau direkt unter ihnen, dessen Holzdach in hellen Flammen stand. Funken stoben auf das nächste Dach und das übernächste.
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