Sonnenscheinpferd
gestrichen.Der größte Riss im Fußbodenbelag war fast unter einem schwarzen Läufer verschwunden. Auf dem Bett lag jetzt ein dunkelbrauner Überwurf, der allerdings viel zu groß war. Irgendjemand musste Nellí diese Sachen geschenkt haben, sie war so arm, dass sie sich nichts kaufen konnte. Vielleicht hatte sie Verwandte, die ihr eine Decke in falscher Größe zusteckten, so etwas kam wohl kaum von der Mütterhilfe, denn zu den Müttern konnte Nellí ja nicht mehr gezählt werden.
Sie hatte neue, blaukarierte Gardinen aufgehängt, und die Decke auf dem Tisch war aus dem gleichen Stoff. Alles war so enorm gut gestärkt und gebügelt, dass ich sie schrecklich gern gefragt hätte, wie sie das machte. Aber das war zu riskant, denn Nellí war offensichtlich ziemlich wissbegierig, das hatten die Sonntagslammkeule und die gezielten Fragen nach Ragnhild und Harald gezeigt. Sie würde womöglich herausfinden, dass ich bei mir zu Hause die Wäsche wusch – was in der Oststadtschule eine Ausnahme war. Die Mädchen waren samstags immer im Schwimmbad, und ich konnte sie mir kaum am gleichen Tag beim Wäschewaschen vorstellen.
Auf Nellís neuer Tischdecke lagen eine Pappschachtel und ein hellblaues, glänzendes Stück Stoff, in das sie nachtblaue Buchstaben gestickt hatte, DÓR, und die Nadel steckte noch im R. Also hieß das Mädchen auf dem Foto Dór, und die guten Leute würden ihr nicht die Zöpfe abschneiden. Ihre Mutter hatte vor, die Pappschachtel mit dem hellblauen Stoff zu überziehen und sie ihrem Kind zukommen zu lassen, wo auch immer es war.
Neben der Schachtel stand ein Marmeladenglas mit einem Blumenstrauß aus Wiesenschaumkraut, Löwenzahn und Gräsern. Es sah ganz ähnlich aus wie das, was Magda manchmal sammelte und in einer Vase arrangierte. Nachdem sie fort war, wurden Blumenvasen in der Sjafnargata eher für Sicherheitsnadelnund Gummibänder verwendet. Am besten sollte man Nellí eine von diesen Vasen schenken.
Ich verstand gar nicht, weshalb Nellí ihr Sonntagskleid anhatte, und fragte, ob sie zu einer Beerdigung müsste.
Sie sah mich rasch an: Etwas in der Art.
Ich hatte eine so blödsinnige Frage gestellt, dass mir vor Scham ganz heiß im Gesicht wurde.
Aber Nellí nahm mir das nicht übel. Sie streichelte mir die Wange: Ich hatte gehofft, dass du kommen würdest.
Nellí hatte richtige Schokolade gekocht, Sahne geschlagen und Pfannkuchen gebacken. Sie hatte ganz offensichtlich nicht nur Augen im Nacken, sondern auch den Siebten Sinn, so wie das Hausmedium in der Sjafnargata, da sie mit mir gerechnet hatte.
Sie nahm die Schachtel, das blaue Stück Stoff mit dem Namen Dór, die Schere und das dunkelblaue Stickgarn vom Tisch und legte alles auf die neue Bettdecke. Bei ihr drinnen war es nicht möglich, irgendwo anders etwas abzulegen. Dann deckte sie den Tisch für uns beide, sogar mit Servietten.
Ich aß fünf Pfannkuchen und trank zwei Tassen heiße Schokolade. Anschließend war ich so benommen, dass ich kaum sprechen konnte, aber irgendwie fühlte ich mich verpflichtet, dieser Frau, die Anfälle bekommen und Gras gefressen hat und der ein wohlgenährtes Kind weggenommen worden war, etwas Besonderes zu sagen; sie hatte nur für mich eine festliche Kaffeetafel gedeckt.
In dieser Situation war es unmöglich, Nellí mit der albernen Frage zu belästigen, wer ein Sonnenscheinpferd war und wer kein Sonnenscheinpferd war. Nellí würde glauben, ich hätte einen Niedrigen Intelligenzquotienten. So was gab es bestimmt auch bei Kindern, auch wenn ich den Begriff Niedriger Intelligenzquotient nur im Zusammenhang mit Erwachsenengehört hatte. Den gab es nämlich recht häufig bei den Eltern der kranken Kinder auf Ragnhilds Station. Bei Niedrigem Intelligenzquotienten in der Familie war die richtige Dosierung der Medikamente nicht garantiert, was den Heilungsprozess gefährden konnte, und deswegen durften die Kinder erst entlassen werden, wenn sie völlig gesund waren.
Allerdings war das, was ich stattdessen zu Nellí sagte, fast genauso dämlich wie das mit dem Sonnenscheinpferd, aber ich sagte es trotzdem in der Hoffnung, ihr damit eine Freude zu machen: Du bist jetzt gar nicht mehr voll, sagte ich.
Nein, sagte Nellí und lächelte.
Ich wusste zwar, dass sie kaum noch Zähne hatte, aber ich erschrak trotzdem, als ich die vier Zähne sah. Es ging ja auch nicht an, dass Leute so arm waren, dass sie sich nicht einmal Zähne im Mund leisten konnten. Ragnhild war ganz und gar gegen Armut, und ich gab ihr
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