Sonnenscheinpferd
um nicht für den Rest des Hundelebens allein und ohne den Einzig Richtigen Partner dahinvegetieren zu müssen. Wer sich außerstande sah, eine so grundlegende und nicht wieder rückgängigzu machende Entscheidung zu treffen, landete chronisch gemütskrank in der psychiatrischen Klinik Klepper, zum Schrecken der Kinder in diesem Viertel, denn solche Gestalten lungerten gern an diversen Bushaltestellen herum. Schlimmstenfalls hielten sie undefinierbare Beutel umklammert und blieben nicht bei Haltestellen stehen, sondern fuhren sogar mit dem Bus, und niemand wusste, wohin.
Liebesleid gab es aber auch in der
schleichend tödlichen
Form physischer Krankheiten. Erhöhte Anfälligkeit bestand bei unterernährten Menschen in kalten und feuchten Unterkünften. Der Natur der Sache gemäß grassierte Liebesleid in der Brusthöhle, und damit waren den Tuberkelbakterien Tür und Tor geöffnet, oder die Bazillen stürzten sich mit verdoppelter Energie auf eine bereits in Mitleidenschaft gezogene Brust.
Tuberkulose war auch eine ergiebige Quelle für Liebesleid am Schauplatz des Lungensanatoriums in Vífilsstaðir, wo Liebe und Tod so poetisch Händchen hielten. Die seltenen Male, die Ragnhild und Harald einen ganzen Abend zu Hause waren und das Programm im Fernsehsender des amerikanischen Stützpunkts nicht besonders war, erzählten sie sich Geschichten von Tuberkulose und Liebe.
Nahezu alle, die ergreifendem Liebesleid zum Opfer gefallen, aber weder gestorben noch in der Psychiatrie gelandet waren, lebten den Rest ihres Lebens kränkelnd zur Untermiete in einem Zimmer mit Zugang zum Bad oder in dunklen Kellern ohne Bad, abgesehen von einem Zuber im Waschkeller. In Ausnahmefällen lebten die Betroffenen in einem Wohnblock in einer Wohnung mit Bad, mit Blick aus dem Küchenfenster auf das Bergmassiv der Esja, erreichten ein hohes Alter und waren noch als Senioren bei einigermaßen zufriedenstellender Gesundheit, umzingelt von isländischen und skandinavischen Gedichtsammlungen, die sie extra hatteneinbinden lassen, um das Feuer der Sehnsucht zu schüren. An den Wänden vielleicht auch abstrakte Bilder von Karl Kvaran und Guðmunda Andrésdóttir, um lebenslangem Liebesleid einen kulturellen Rahmen zu geben, der in eine abstrakte Zukunft wies, genau wie Liebesleid auf seine Weise.
Über Liebesleid und Gründe für das Single-Dasein redeten die Leidtragenden und deren nächste Angehörige nie laut. Das war eins der ungeschriebenen Gesetze bei diesem
Phänomen.
Auf der anderen Seite gab es aber unentwegt Geflüster im engsten Familienkreis über den unerhört attraktiven Mann, der
sie
hintergangen hatte, oder über dieses Flittchen, das
ihm
das Herz gebrochen und ihn verschmäht hatte. Diese Saboteure der Gefühle wurden sogar beim Namen genannt, aber damit nicht genug, der Attraktive beziehungsweise das Flittchen hatten meist auch mehr als einem oder zwei anderen Opfern das Herz gebrochen.
Es war typisch für grenzenloses Liebesleid, dass Menschen, die wenig darstellten oder unansehnlich waren, davon verschont blieben. Diese Art von lebenslänglichem Schmerz blieb allein jenen vorbehalten, die etwas hermachten und über Charme, moralische Stärke und einen einwandfreien Charakter verfügten. Zudem waren Liebesleidende fast ausnahmslos lebens- und unternehmungslustige Menschen gewesen, bevor das Phänomen über sie hereinbrach. Diejenigen, die überlebten und nicht in der Irrenanstalt landeten, waren für einen Großteil ihres Lebens niedergeschlagen; es gab jedoch Beispiele dafür, dass die Leute wieder auflebten, wenn sie die sechzig überschritten hatten, auch wenn das im Prinzip nichts an den Auswirkungen chronischen Liebesleids änderte.
Harald und Ragnhild waren Ausnahmen in Sachen Liebesleid. Das Phänomen streckte sie beide Anfang zwanzignieder. Sie hatten zwar vorgehabt, sich in herkömmlicher Weise bis zum Lebensende damit einzurichten, doch sie wichen vom vorgezeichneten Leidenspfad ab und begnügten sich letztlich miteinander. Obendrein besaßen sie die Unverfrorenheit, ein Kind und noch eins zu bekommen, und an diese seltsame Vorstellung konnten sie sich wie gesagt nie gewöhnen, am allerwenigsten Ragnhild.
Obwohl ich kein Kind war (höchstens vielleicht vor meiner Erinnerung), hatte ich trotzdem eine Kindheit, solange Magda da war,
Magdamama,
wie ich sie in kindlich logischem Denken nannte – und Ragnhild nannte ich Ragnhild. Ragnhild überhörte das geflissentlich, und es ist auch keineswegs sicher, ob sie es
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