Sonnenscheinpferd
ewig auf der Suche nach etwas durch sämtliche acht Zimmer des Hauses plus Küche und Bad, immer gleichermaßen liebenswürdig. Sie erhoben nie ihre Stimmen, gleichgültig, welch einzig wahren verlorenen Gegenstand sie schmerzlich vermissten. Für mich hörte es sich an wie eine buddhistische Litanei: OMM, wo sind denn bloß meine Pantoffeln … OMM … ist das Klopapier wieder alle … OMM … habt ihr meine Brille für draußen gesehen. Ja, OMM. Brille Brille Brille.
Sie belästigten einander unablässig und immer wieder. Das war ihre Art der Kommunikation.
Mama, hast du den Artikel über Meningitis B genommen, den ich fotokopiert habe?
Nein, den habe ich nicht gesehen, Papa, aber ich suche schon die ganze Zeit nach dem Buch von Baron von Schrenck, da steht etwas über Ektoplasma drin. Hast du es vielleicht?
Hast du das Telefonbuch irgendwo gesehen, gestern Abend so gegen neun lag es auf dem Ecktisch im Grünen Salon?
Du legst es doch immer auf die hohe Kommode unten im Eingang, erinnerst du dich nicht … erinnerst du dich nicht … nicht …
Das Ehepaar säuselte sich liebliche Töne vor, wie Liebende in einer Operette, zwischen den Arien über wiedergefundene Dinge und noch nicht gefundene – über neue Fundstätten und frühere oder spätere Aufbewahrungsorte und Aufbewahrungsorte von ungefundenen und gerade wiedergefundenen Gegenständen. Aber die sanften Stimmen hatten ein leicht gereiztes Timbre, es gab immer und immer wieder Bredouillen, aus denen sie einander kaum zu retten vermochten. Sie, die erst spät im Leben zueinander gefunden hatten, spielten hemmungslos Mutter-und-Kind-Spiele und redeten sich mit Papa und Mama an, als würden sie endlos mit ihren Eltern sprechen, sie verloren sich oder verheddertensich in den Wörtern wie die schlimmsten Stotterer: Bist du dir da ganz sicher, Mammammmamma? Ja, das bin ich, Pappipapp. Pa. Papp.
Harald und Ragnhild schafften nicht mehr, als kramend durch die Zimmer zu vagabundieren, einander zu stören und sich gegenseitig aus Klemmen zu helfen, sei es bei einem Reißverschluss, einer Reinkarnation oder einem verlegten Teelöffel. Sie taten so, als gäbe es Mummi und mich nicht. Vielleicht lebten sie in beständiger Verwunderung darüber, dass sie Kinder hatten, oder sie fanden es irgendwie peinlich. Sie waren natürlich auch schon in fortgeschrittenem Alter, als die Kinder kamen, ganz zu schweigen von einem aufgelösten Mandolinenorchester und Liebesleiden.
Ich wusste nie genau, was bei Harald vorgefallen war, nur, dass seine Verlobte nicht wie Ragnhilds Dichter jung an Tuberkulose gestorben war. Ich ging die ganze Zeit davon aus, dass Harald zur Spezies Verschmähte Isländer gehörte, aber in seiner letzten Stunde sagte er mir, sie warte im Jenseits auf ihn.
Kurz nachdem Harald gestorben war, kam Ragnhild auf die Idee, mir das Abschiedsgedicht ihres angehenden Dichters zu zeigen und damit meine Erinnerung an Haralds Tod zu beeinträchtigen. Nichts kann Ragnhild in Frieden lassen, diese teilnahmslose Person. Ach.
Auf einem gelben Blatt aus einem früheren Leben stand das Gedicht eines angehenden Poeten. (Wurden die Leute angehend genannt, weil sie dem Tode geweiht waren und deswegen voraussichtlich nie etwas anderes als angehend werden würden?) Ich dachte an den Baudelaire-und-Poe-Blick des Dichters, Auge in Auge mit Ragnhild, und wie sie in jüngeren Jahren gewesen sein mochte. Und ich sah daunenweiche Moospolster in der Lava beim Vífilsstaðir-Sanatoriumvor mir, wo der Todgeweihte sich nach wenigen Schritten mit dem Kopf auf Ragnhilds Schulter ausruhen musste.
Bald trennt uns nichts
als hellgrüne Lava
Schauplatz tanzender Strahlen an Farn und Halm
deine selige Hand wird mich geleiten
zu beginnenden Schatten
und nichts
wird ferner deine Hand und mich trennen.
Ich schrieb das Gedicht des Poeten ab, der mit dreiundzwanzig Jahren gestorben war und Ragnhild so untröstlich hinterlassen hatte, dass sie das Medizinstudium mit den allerbesten Noten absolvierte.
Harald und Ragnhild waren geprägt von den Zeiten CHRONISCHEN LIEBESLEIDS. Das war eine Epidemie, die in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte und halbe Jahrgänge von Isländern im heiratsfähigen Alter so zugrunde richtete, dass sie verschmäht und mit gebrochenen Herzen in klassischen Heidesträuchern und entwässerten Sümpfen zuhauf herumlagen.
Liebesleid war
akut tödlich,
wenn die Verschmähten sich nämlich stante pede das Leben nahmen,
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