Sonnenscheinpferd
Sohnestochter.
Ragnhild hingegen hat eine klinische Einstellung zur Homosexualität, die sich auch nicht ändert, wenn der einzige Sohn betroffen ist. Sie diskutiert das von der Statistik und den Gepflogenheiten her und setzt den prozentualen Anteil von Schwulen fest. Soweit man weiß, fügt sie ganz betont hinzu, soweit man weiß, und dann geht der Monolog los und nimmt seinen Lauf:
Phänomen seit Urzeiten bekannt, und mancherorts völlig legitim und selbstverständlich, bei den alten Griechen natürlich – andernorts große Vorurteile, beispielsweise auf den Färöer-Inseln, wo sie
Mehlsäcke
genannt werden, ganz zu schweigen von den Vorurteilen in Russland und China, die an Verfolgungswahn grenzen. Und seht euch doch bloß die isländischen Sagas an und all diese Spottstrophen über einen Mann mit einem Mann. In vielen Ländern ist Homosexualität schlichtweg illegal, nicht zu fass-ssen, zisch zisch, o-sso beim Einatmen. Ragnhild ist erhaben über Privates und Persönliches, auch darüber, dass ihr schwuler Sohn unglücklich ist, falls sie es denn überhaupt wahrnimmt.
Ich hatte gehofft, er würde ein extrovertierter schriller Schwuler werden und entsprechend Furore in der Stadt machen,oder einfach ein normaler Schwuler der kultivierten und amüsanten Sorte, aber er ist leider ein ziemlich verklemmter Homosexueller, der sich unter eingefleischten Lesben und alten Frauen am wohlsten fühlt.
Ich werde den Gedanken nicht los, dass Mummis Schwulsein etwas mit Ragnhild zu tun hat. Dass es in seinen jungen Jahren einen seltsamen Einfluss auf ihn hatte, als Ragnhild aufhörte zu arbeiten und sich ihm zuwandte – ihm abends vorlas und sich anbot, ihm die Haare zu waschen. Womöglich verunsicherte sie ihn mit diesen Anwandlungen so, dass er sich nicht zu anderen Frauen hingezogen fühlen mochte. Es wirkte geradezu, als sei genau die Person, von der man es am wenigsten erwartet hätte, Anlass und Grund für das, was folgte, obwohl diese Person auch nie auch nur den kleinsten Finger rührte, um sich einzumischen. Inzwischen bin ich eigentlich davon überzeugt, dass Teilnahmslosigkeit durchaus Entwicklungen in die Wege leitet, und zwar wesentlich effektiver, als es Einmischerei tun würde.
Ragnhild hörte nach langwierigen Séancen an drei aufeinanderfolgenden Abenden im Grünen Salon auf zu arbeiten. Die Sitzungen zogen sich bis nach Mitternacht hin, und ich konnte vor lauter Stimmen von gestorbenen Kindern – bis hin zu lallenden Säuglingen – kein Auge zutun. Am vierten Abend kam der Psychiater, der gute Jónas.
Ich saß auf der Existenztreppe und hörte das Gespräch in der Küche, jedes ph und das leise Zischen beim Luftholen, o-sso. Daraus wurde eine unserer Hauptnummern, als Mummi und ich ins Teenageralter kamen. Mummi spielte Ragnhild mit erstklassigem Zischen, und ich versuchte mich an Jónas’ exquisit schleppendem Tonfall.
Ich überlegte oft, ob ich meinem Liebsten zum Spaß dieseNummer vorführen sollte. Aber das hätte natürlich viel zu nahe an das Schweigen um die Sjafnargata herangeführt. Nicht möglich.
Du gewöhnst dich nicht daran, kranke Kinder zu sehen, sagte Jónas, der gute Psychiater.
Ph.
Ich glaube, du verkraftest es nicht, wenn sie sterben, sagte er.
Ph.
Ich glaube, du hast es nie verkraften können.
Da brach sie in Tränen aus, das erste und einzige Mal, soweit ich wusste.
Ganz ruhig, sagte Jónas. Jetzt hörst du einfach auf zu arbeiten, oder du lässt dich als praktische Ärztin nieder und fängst ein neues Leben an.
Ein neues Leben, schluchzte Ragnhild, nein, da wär’s doch besser, wenn einen gleich der Schlag träfe.
Sag das nicht, meine liebe Ragnhild, es besteht großer Bedarf an praktischen Ärzten.
Es besteht Bedarf an mir auf der Station. Ich bin doch nicht pensionsreif. Ich kann nicht gleich aufhören zu arbeiten.
Zum Glück sind inzwischen einige neue Kinderärzte vom Studium im Ausland zurückgekommen.
Aber die verstehen sich nicht so gut auf die Diagnose wie ich. Und das kann tödlich sein, eine falsche Diagnose.
Und wer soll diagnostizieren, wenn du tot bist, meine liebe Ragnhild?
Pahh, sagte sie, und ich hörte ein gewaltiges Schnäuzen, wusste aber nicht, von wem dieser Laut stammte.
Kurz darauf setzte Ragnhild das Hausmedium vor die Tür, und ihre Ansichten über jenseitige Welten und den zuständigen Hausherrn änderten sich rasant – sowieso ein uninteressanterOrt, sterbenslangweilig, und Gott der Allmächtige keineswegs über Kritik erhaben.
Weitere Kostenlose Bücher