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Sonnenscheinpferd

Sonnenscheinpferd

Titel: Sonnenscheinpferd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steinunn Sigurðardóttir
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Früher ging es ihr darum, sich gut mit ihm zu stellen und ihn sogar bei Séancen mit einzubeziehen. Nun hatte sie ihre Zweifel daran, was er mit diesem oder jenem bezweckte. Das ging so weit, dass sie hinzufügte: Falls es ihn denn gibt.
    Gott steh dir bei, Mama, sagte Harald daraufhin.
    Man muss Ragnhild zugutehalten, dass sie auch mit zunehmendem Alter nicht weich wurde, sie reitet noch immer heftige Attacken gegen Gott den Allmächtigen, den sie immer häufiger den höchsssten Gebieter nennt, mit Zischen.
    Vor allem der Einstellung Gottes zu Kindern steht sie außerordentlich kritisch gegenüber, nicht zuletzt zu Kindern der Dritten Welt. Sie findet es unter Gottes Würde, wie er die Angelegenheiten der Kinder handhabt.
    Generell sind Leiden von Erwachsenen in ihren Augen belanglos im Vergleich zu den Leiden von Kindern – das ist eine von Ragnhilds ANSICHTEN, und diese ANSICHT wird Bestand haben, solange sie die Nacht zum Tage macht und in Haralds kariertem Hausmantel am Küchentisch sitzt, in der Küche, die ich wiedererstehen ließ, mit einer Poggenpohl-Einrichtung und grauem italienischem Marmor auf dem Boden.

    Nicht nur im Hinblick auf Gott wurden Ragnhilds Ansichten im Lauf der Zeit immer kritischer, sondern auch im Hinblick auf Zeit und Raum.
Unzeit
und
Unland
war eine vielverwendete Wortkombination, vor allem im Hinblick auf Kinder in Zeit und Raum. Kettenrauchend hielt sie Harald in der Küche und am Telefon dem guten Jónas und diversen arglosen Frauen Vorträge über das Schicksal von Kindern, die in tiefster Armut in Afrika, Indien, Sowjetrussland zur Welt kommen, genau wie früher in Island zu Zeiten tiefsterBedrängnis und höchster Kindersterblichkeit. Ein Kind in Zeiten von Luftangriffen zu sein, oder während der Belagerung von Leningrad, ein Judenkind zu Zeiten des Holocaust oder in Hiroshima zu Zeiten der Bombe, ein Zigeunerkind.
    Ragnhild stellte daraus eine Litanei zusammen, die sie vorwärts und rückwärts und rückwärts und vorwärts deklamierte, in Variationen und meistens in der Küche. Sie fand immer wieder neue Gruppen von Kindern in neuen Ländern, die aus einer unverzeihlich misslichen Fügung des Schicksals heraus zu Unzeiten geboren wurden, zu Kriegszeiten oder zu Zeiten von Völkermord und Armut.
    Niemand kann seinen Geburtsort und seine Geburtsstunde bestimmen, das war eins von Ragnhilds zentralen Themen. Für sie wurde dadurch das Leben, vor allem aber das Leben von Kindern zu einer unerträglichen Ungeheuerlichkeit.
    Ragnhild fand es geradezu unmoralisch, seinen Blick zu sehr auf positive Aspekte zu richten, wo doch die negativen Aspekte so viel dominanter waren. Optimismus war das Idiotischste, was sie kannte, dümmer als die Dummheit persönlich. Zur Bekräftigung zitierte sie aus Voltaires Candide, sowohl auf Französisch als auch in Halldór Laxness’ Übersetzung. Anschließend fragte sie immer wieder, wie es möglich sei, den Blick auf positive Aspekte zu richten, wenn die Kinder dieser Welt durch Hunger und Krankheiten zuhauf dahingerafft würden, obwohl es Essen und Medikamente im Überfluss gab, aber sie dorthin zu transportieren, wo sie benötigt wurden, das sei wohl zu viel verlangt von den Menschen, gar nicht zu reden von Gott, und die Kinder seien ja schließlich nicht imstande, sich zu helfen.
    Nein, ein erwachsener Mensch hat lange Beine, die ihn dahin tragen können, wo er hinwill, und er kann anderen Erwachsenen klarmachen, was nicht stimmt, aber ein Kind hatkurze Beine und ist keinesfalls immer imstande, Erwachsenen begreiflich zu machen, was nicht stimmt, selbst wenn es sprechen kann und weiß, was nicht stimmt.
    Das Kind ist abhängig von Erwachsenen. Erwachsene können ein Kind genau so behandeln, wie es ihnen passt, und sich dabei körperliche und geistige Überlegenheit zunutze machen. Die Leiden eines Kindes sind das Unentschuldbarste von allem Unentschuldbaren, Millionen und Abermillionen kommen in Orten und Ländern zur Welt, wo ihnen nur eines gewiss ist, nämlich permanentes Elend vom ersten Atemzug an, wenn sie das sogenannte Licht der Welt erblicken. Das sogenannte. Nein, ich nenne das nicht das Licht der Welt, ich nenne es Sonnenfinsternis, von Menschenhand verursacht.
    In diesem Zustand der Erregung lag Ragnhild so viel am Herzen, dass sie nicht inhalierte, sondern den Kettenrauch sofort von sich blies, und man wurde rückwärts auf den Korridor hinausgetrieben. Die Sicht war so schlecht, dass sie gar nicht merkte, wenn man weg war, und der

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