Sonnensturm
dahin. Sie waren mit
Werkstätten und Baufahrzeugen übersät, die sich
geduldig mühten. Ein Astronaut bahnte sich vorsichtig einen
Weg über die Oberfläche; er trug eine lange Strebe aus
ätherisch leichtem Mondglas und sah dabei aus wie eine
Ameise, die ein Blatt vom Vielfachen ihrer
Körpergröße schleppte.
Und Siobhan erspähte auch etwas, das wie Flaggen aussah,
die wegen des fehlenden Winds mit Draht versteift waren.
»Was ist das?«
»Wir haben hier oben keinen Friedhof«, sagte Bud
in schonungsloser Offenheit. »Wir schicken die Toten
einfach in den interplanetaren Raum. Aber wir setzen ihnen ein
Zeichen: eine Fahne ihres Landes oder ihrer Religion oder was
auch immer sie wollten. Beim Bau des Schilds bewegen wir uns in
einer Spirale ums Zentrum und erweitern dabei ständig den
Radius. Wir pflanzen die Fahne einfach an der Vorderkante, egal
wo man stirbt.«
Wo sie nun gezielt nach ihnen suchte, vermochte sie auf einen
Blick gleich mehrere Fahnen zu erkennen – Dutzende Fahnen.
»Hunderte sind hier oben gestorben.« Sie hatte die
genauen Zahlen nicht gekannt.
»Das sind gute Leute, Siobhan. Auch ohne die
unmittelbaren Risiken der Bauarbeiten haben manche schon seit
zwei Jahren oder noch länger ununterbrochen in der
Schwerelosigkeit gearbeitet. Die Mediziner sagen, dass wir alle
noch Probleme mit den Knochen, dem kardiovaskulären System,
den Lymphdrüsen und dem restlichen Körper bekommen
werden. Wissen Sie, was der häufigste medizinische Befund
hier oben ist? Nierensteine – Kalzium, das aus den Knochen
geschwemmt wird. Und die Strahlungsexposition nicht zu vergessen.
Jeder weiß über die Schäden an der DNA und das
daraus resultierende Krebsrisiko Bescheid. Und wie steht’s
mit dem Gehirn? Die Birne ist für die Höhenstrahlung
besonders anfällig und hat nur eine beschränkte
Fähigkeit, sich selbst zu reparieren. Das Universum macht
dumm, Siobhan.«
»Das wusste ich nicht…«
»Ich bin sicher, dass du das nicht wusstest«,
sagte er mit einem harten Unterton. »Medizinische Studien
an den Schild-Arbeitern haben das bewiesen. Ein Jahr hier oben
kostet dich zehn Jahre deines Lebens. Trotzdem bleiben diese
Menschen und arbeiten sich zu Tode.«
»Oh, Bud…« Impulsiv ergriff sie seine
Hände. »Ich bin doch nicht hier, um deine Leute
anzugreifen; das weißt du doch. Und ich will auch nicht,
dass wir uns zerstreiten.«
»Aber…«, sagte er schwer.
»Aber du weißt, weshalb ich hier bin.«
Es ging um Korruption. Irdische Buchhalter hatten beim
Brüten über ihren voluminösen elektronischen
Büchern festgestellt, dass ein Teil des Kapitals und
Materials, das in den Weltraum floss, abgezweigt wurde –
und dass die Ursache dieser Veruntreuung hier auf dem Schild
selbst zu suchen sein musste.
»Bud, die Verwaltung hätte es nicht zu ignorieren
vermocht, selbst wenn sie es gewollt hätte. Wenn das so
weitergeht, könnte noch das ganze Projekt gefährdet
werden…«
Er unterbrach sie. »Siobhan, komm wieder auf den Boden
der Tatsachen zurück. Ich will das Abschöpfen gar nicht
bestreiten. Aber mein Gott, schau mal aus dem Fenster. Dieses
Projekt zieht einen signifikanten Teil des BIP des ganzen
Planeten ab. Nicht einmal der gierigste Geier könnte
sich derart bereichern, dass es einen Unterschied machen
würde. Du musst das im Zusammenhang sehen. Die
Prozentsätze betrachten…«
»Das ist nicht der Punkt, Bud. Du musst die Psychologie
berücksichtigen. Du sagst, dass deine Leute hier Opfer
bringen. Wir auf der Erde bringen nämlich genauso
große Opfer, um diese Sache zu finanzieren. Und wenn die
Mittel dann auch noch gestohlen werden…«
»Gestohlen.« Er schnaubte und wandte sich
von ihr ab. »Siobhan, du hast ja keine Ahnung, wie es ist,
hier oben zu arbeiten. Zwei Millionen Kilometer von zu Hause und
der Familie entfernt. Ja, ich rette hier den Planeten. Aber ich
will auch meinen eigenen Sohn retten.«
Sie fror plötzlich. Er hatte ihr nie gesagt, dass er
einen Sohn hatte.
In letzter Konsequenz konnte dies nur eins bedeuten. »Du bist auch daran beteiligt. Du zweigst dir einen
Anteil ab, nicht wahr?«
Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen. »Schau«,
sagte er schließlich. »Es gibt da eine Firma in
Montana. Sie hat alte, längst aufgelassene Atomraketen-Silos
von der USASF gekauft. Diese Bunker wurden konzipiert, einen
Atomschlag zu überstehen und ihre Besatzungen für
Wochen am Leben zu erhalten. Ich habe
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