Sonnensturm
durchdringen werden,
als ob sie gar nicht vorhanden seien…«
»Wie Kugeln durch Papier«, sagte Michail.
Ein tödlicher Hagel aus Strahlung und schweren Partikeln
würde überm Festland und dem Meer niedergehen. Für
einen ungeschützten Menschen würde das bedeuten, dass
Millionen winziger Explosionen in den Körperzellen
stattfinden; die empfindlichen Biomoleküle, die Proteine,
aus denen der Mensch und das genetische Material bestanden, das
seine Struktur und sein Wachstum regelte, würden
zertrümmert werden. Viele Menschen würden sofort
sterben. Für die Überlebenden würde das Leiden
sich nur verlängern. Selbst zukünftige Generationen
würden Mutationen erleiden, die sie töten würden,
kaum, dass sie das Licht der Welt erblickt hatten.
Jedes Lebewesen auf der Erde, alle, die auf Proteinen und DNA
basierten, wären in ähnlicher Weise betroffen. Selbst
dort, wo Menschen überlebten, wäre die Ökologie
verwüstet.
Eugene erläuterte in schonungsloser Offenheit die
Langzeitprobleme. »Nachdem die Wolke sich verflüchtigt
hat, wird die Luft mit Kohlenstoff 14 geschwängert sein,
weil Neutronen von Stickstoffkernen eingefangen wurden. Sehr
radioaktiv. Und wenn die Farmen den Betrieb wieder aufnehmen
sollten, wird das ganze Zeug in die Nahrungskette gelangen. Die
Meereslebewesen wären zunächst am wenigsten betroffen,
bis das Artensterben in den Meeren einsetzt…«
Bud hatte verstanden. Die Katastrophe hätte schier
apokalyptische Dimensionen. Scheiße, sagte er sich. Es war
alles umsonst. Und in einer Stunde – schon in einer Stunde!
– würde es losgehen.
Impulsiv tippte Bud auf die Softscreen und blätterte aufs
Geratewohl durch Abbildungen der Erde.
Hier standen die letzten Wälder Südamerikas, die mit
so großem Engagement bewahrt wurden, in Flammen, und ebenso
die Sojabohnenfelder, die sie verdrängt hatten. Und hier
brachen die fast schon klischeeartigen Wahrzeichen der
menschlichen Welt brennend zusammen: das Tadj Mahal, der
Eiffelturm, die Sydney Harbor Bridge. Hier waren große
Häfen durch die monströsen Stürme verwüstet,
Raumflugzeuge wie Motten zerquetscht worden, die Brücken
Japans und Gibraltars und über den Ärmelkanal
zerstört und durch starke Blitzeinschläge grotesk
verdreht. Dennoch glaubte jeder, dass das Schlimmste
überstanden sei; überall suchten Menschen in den
Trümmern ihrer Häuser nach Überlebenden,
durchsuchten den Schutt und bereiteten sich jetzt schon wieder
auf einen Neuanfang vor. Und nun das. Und der Schild? Ohne jeden
Schutz würde er sicher zerstört werden, zerknüllt
und zerfetzt wie ein Blatt in einem Orkan.
Nach allem, was sie bereits überstanden hatten, schien
das unfair – als ob ein Erwachsener die Spielregeln just in
dem Moment änderte, als die Kinder aller Voraussicht nach
gewinnen würden. Vielleicht hatte diese bekloppte englische
Soldatin doch Recht mit ihren ›Erstgeborenen‹, sagte Bud sich
unbehaglich.
Plötzlich verspürte er Sehnsucht nach Siobhan. Wenn
sie hier bei ihm wäre, wäre es nicht gar so schlimm,
sagte er sich. Aber das war ein selbstsüchtiges Motiv; auf
der Erde, wo auch immer sie war, war sie auf jeden Fall sicherer
als hier oben.
Er schaute auf die Softscreens und in Michails düsteres
Gesicht. Er wurde sich bewusst, dass seine Leute ihn
beobachteten; selbst in diesem Moment musste er an die Moral
denken. »Also, welche Optionen haben wir?«, fragte
er.
Michail schüttelte nur den Kopf. Eugene, dessen Blick
unstet flackerte, schaute weg.
Unerwartet meldete Athene sich. »Ich habe
eine.«
Bud schaute verwirrt auf. Auf der Softscreen war Michail die
Kinnlade heruntergeklappt.
»Keine Sorge, Bud. Ich fühlte mich genauso elend,
als ich mir der Konsequenzen bewusst wurde. Aber wir werden das
überstehen; Sie werden sehen.«
»Wovon sprichst du überhaupt, Athene?«,
blaffte Bud sie an. » Wie werden wir das
überstehen?«
»Ich war so frei, die Behörden zu warnen«,
sagte Athene ungerührt. »Ich habe bereits Kontakt zu
den Büros der Präsidenten Eurasiens und Amerikas und
zur chinesischen Führung aufgenommen. Ich habe diesen
Prozess eingeleitet, als der Sonnensturm noch tobte. Bud, ich
wollte Sie nicht damit behelligen. Sie waren ziemlich
beschäftigt.«
»Athene…«, sagte Bud.
»Moment mal«, sagte Michail. »Athene, nur
dass ich das recht verstehe. Du hast die Warnungen also gesendet, bevor wir online gingen. Dann hast du das
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