Sonnensturm
damit es wieder zu
leben vermochte.
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NACHBEBEN
Eine Kette von Ereignissen, die über Jahrtausende
zurückreichte, war fast geschlossen. Der Sonnensturm war
natürlich eine Energieverschwendung gewesen – aber
nicht annähernd so verschwenderisch, wie die Menschheit es
eines Tages vielleicht geworden wäre, wenn man es ihr
gestattet hätte, die Sterne zu infizieren.
Der Sonnensturm flaute ab. Obwohl die relativ geregelten
Zyklen der Sonne auf Jahrzehnte gestört wären, hatte
die große Energiefreisetzung eine reinigende Wirkung
gehabt, und die Destabilisierung des Kerns war abgeklungen. Die
Sonne hatte sich genauso verhalten, wie Eugene Mangles’
erstaunlich präzise mathematische Modelle es vorhergesagt
hatten.
Jedoch waren diese Modelle nicht perfekt gewesen und konnten
es auch nicht sein. Und bevor dieser lange Tag vorüber war,
hielt die Sonne noch eine Überraschung für ihre
erschöpften Kinder bereit.
Das extrem starke Magnetfeld der Sonne formt die
Atmosphäre des Sterns in einer Art und Weise, für die
es auf der Erde keine Analogien gibt. Die Korona, die
äußere Atmosphäre, ist mit langen Gasschwaden
gespickt wie eine Blume mit Blütenblättern, die viele
Radien von der Sonne auszugreifen vermögen. Die eleganten
Kurven dieser ›Luftschlangen‹ werden durch die
Magnetfelder geformt, die sie kontrollieren. Die Luftschlangen
sind hell – es sind diese Plasmaschichten, die bei einer
Sonnenfinsternis an der Peripherie der ausgeblendeten Sonne zu
sehen sind – weil sie vom Magnetfeld mit Energie voll
gepumpt werden, sind sie aber so heiß, dass die spektrale
Spitze nicht aus sichtbarem Licht, sondern aus
Röntgenstrahlen besteht.
Wie gesagt, in normalen Zeiten.
Als der Sonnensturm nun abflaute, bildete eine solche
›Luftschlange‹ sich über der aktiven Region,
die das Epizentrum des Sturms gewesen war. In
Übereinstimmung mit der riesigen Instabilität, aus der
sie hervorgegangen war, war die Luftschlange ein riesiges
Gebilde. Ihre Basis erstreckte sich über Tausende von
Kilometern, und sie griff so weit ins All aus, dass ihr
ausgefranster äußerer Rand den Merkurorbit
tangierte.
An der Basis der Luftschlange waren Flussröhren im tiefen
Innern der Sonne verwurzelt und bildeten durch ihre Krümmung
einen Hohlraum. In diesem Hohlraum waren – durch die
magnetischen Feldlinien fixiert – Milliarden Tonnen
höllisch heißen Plasmas eingeschlossen: Es war eine
›Kathedrale‹ des Magnetismus und Plasmas. Und als
der Sturm abebbte, stürzte diese Kathedrale ein.
Als das ›Dach‹ einstürzte, strömten
gewaltige Flüsse magnetischer Energie in die gefangene
Plasmamasse. Die Masse löste sich von der Oberfläche
der Sonne – zunächst langsam. In dem Maß, wie
das Magnetfeld zusammenbrach, wurde das Plasma jedoch
beschleunigt wie ein Stein, der von einem Katapult geschleudert
wurde. Die ausgestoßene Wolke, ein Gewirr aus Plasma und
magnetischen Feldlinien, war stark ausgedünnt; mit einer
noch geringeren Dichte als das ›reinste‹ Vakuum,
das auf der Erde erzielt wurde. Aber es war auch nicht die
Dichte, sondern die Energie, die zählte. Manche Partikel
waren fast auf die Geschwindigkeit des Lichts beschleunigt
worden. Energetisch war es ein Hammerschlag.
Und wie nüchterne Bewusstseine es vor Jahrtausenden und
sechzehn Lichtjahre entfernt geplant hatten, war er direkt auf
die leidende Erde gerichtet.
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HIOBSBOTSCHAFT
Als Michail mit den Nachrichten online kam, wollte Bud im
ersten Moment schier verzagen. Er floh förmlich aus dem
Kontrollraum, suchte seine Kabine auf und schloss die
Tür.
Auf einer zerknitterten Softscreen, die auf der Koje
ausgerollt war, scrollte er langsam durch die Namen der Toten. Es
waren größtenteils Wartungsingenieure, die dort auf
dem Schild die volle Wucht des Sturms abbekommen hatten –
und Freiwillige wie Mario und Rose, die nach ihrem Tod für
sie eingesprungen waren. Bud kannte sie alle.
In den fünf Jahren ihrer Existenz hatte die Gemeinschaft
auf dem Schild ihre eigene Kultur entwickelt, die Bud nach besten
Kräften gefördert hatte. Es hatte
Null-G-Sportwettkämpfe gegeben, Musik und Theater, Partys
und Tänze und große öffentliche Feiern am
Erntedankfest, Weihnachten, Ramadan, Pessach und zu allen anderen
Anlässen, die sich ihnen boten. Es hatte die üblichen
menschlichen Verstrickungen gegeben, heimliche Affären und
Sonstiges,
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