Sonnenwanderer
eindringlich: »Mit nur 0,7% mehr Stromzuteilung könnten wir den gesamten Sektor mit Luft versorgen.«
Tabeas Lichtkegel erwischte den mattroten Sarkophag eines Cola-Automaten. Sie besah sich den Kasten aus der Nähe.
»Warum?«, sagte sie. Sie hatte nicht vor, auf das Angebot einzugehen, war aber neugierig auf seine Reaktion.
»Das alles hier könnte wieder zum Leben erweckt werden.« Er hielt ihr ein Klemmbrett hin. Es leuchtete eisblau in der Dunkelheit.
Tabea leuchtete in die Aussparung unter der Tülle. Da lag eine riesige, dehydrierte Spinne in der Becherfassung, die Beine zu einem Knäuel verkrampft.
»Wozu?«, fragte sie.
»Tekunak bekundet Interesse. Sie wollen sich vergrößern.«
Käpt’n Jute trat auf den Balkon hinaus und lenkte den Lichtkegel steil nach oben. Von oben dräuten Klumpen abgetropfter Matrix, gelb und labbrig, wie baumelnde Finger mit Schwimmhäuten. Mit dem Mutterkonzern des Chili-Chalets und seinen Ambitionen musste sich der Wirtschaftsausschuss befasst haben. Reden, reden. Berichte, Berichte. Um das alles zu verfolgen, brauchte es mehrere Vollzeitjobs. Sie müsste einfach Leute abstellen.
»Sie wollen auch Sundae Joint übernehmen. Aber das wissen Sie sicher schon.«
Kenny kam herangeschlichen. Käpt’n Jute wies mit dem Kinn auf das Klemmbrett. Der Schrante nahm es dem Menschenmann aus der Hand, schnupperte daran und bestrich es mit einem unsichtbaren Strahl, bevor er es aushändigte. Baupläne, die sich langsam änderten, dunkelblaue Rechtecke ordneten sich um und um. Sie befühlte die glatte, makellose Oberfläche.
Der Konzernvertreter und die Führerin wechselten ein Lächeln. »Essen müssen alle.«
Tabea hatte sich manchmal gefragt, woher sie das Fleisch nahmen. Irgendwo gab es hier alles. Vielleicht wälzte sich im 153sten Stock eine gigantische Rinderherde über die Prärie.
»Bei Ihnen sollen immer noch Kecks vergiftet werden«, sagte sie.
»Da müssten Sie beim Ausschuss für Lagerhaltung nachfragen. Ich weiß nur, dass ein paar von unseren Outlets Probleme mit Nagern hatten.«
»Kecks«, sagte sie.
»Vermutlich, ja. Tut mir leid …«, sagte der Konzernvertreter in einem Ton, der sein Bedauern glaubhaft machen sollte.
Sie gab ihm das Klemmbrett zurück.
»Verschonen Sie mich«, sagte sie.
Sie hätte den beiden für den Ausflug danken und ihnen etwas Belangloses versprechen sollen, aber sie war zum Umfallen müde. In ihrem Apartment wartete eine Prise Crystal. Sie schnippte mit Daumen und Mittelfinger. Ihr Leibwächter kletterte vom Balkongitter und ging vor; wenn jemand zurück zum Wagen fand, dann er.
»Haben wir Sonntag?«, fragte sie. »Mein Gefühl sagt ja.«
Er lümmelte sich am anderen Ende der Sitzbank, das Visier immer noch vor dem Gesicht. Unmöglich zu sagen, was er dachte; wenn überhaupt, dann war es nichts Nettes. Tabea Jute hatte ihren Aufpasser satt. Hatte er einen Tag auf sie aufgepasst, stanken nicht nur ihre Klamotten nach ihm, nein, der Gestank nistete sogar in ihrem Haar.
Sie blickte aus dem Fenster der Limousine. An der Tunnelwand raste, ohne zu überholen, der Schatten des Wagens nebenher.
Weit weg gen Steuerbord, am Ende der Schaukelpferdstraße, in einer Kaverne, wo alle Gebäude bis auf eines finster und verwaist waren, saß in Suite No. 5 ein alter, alter Mann und sah zwei Fischen in einem Aquarium zu.
Der eine war rot und der andere eisvogelblau, beide hatten lange, zarte Dreiecksflossen und zierliche Silberschwänze. Sie erinnerten den Alten an flache, runde Karamellbonbons, eingewickelt in Papierchen von leuchtender Farbe.
Das Zimmer, in dem der Alte vor dem Aquarium saß, flackerte vom Kerzenlicht. Die Wände waren nach seinen Vorstellungen purpurfarben und gelb und rot gestrichen und mit silbernen Sternen und Blumen in fluoreszierendem Orange verziert.
Räuchervasen standen herum, und darüber hingen Spiegel mit Samtschals. Die Musik war ohrenbetäubend.
Der Alte trug ein fettiges Stirnband aus flaschengrünem Veloursleder. Anhänger und Ketten und türkisfarbene Perlen hingen um den welken Hals. Er saß in einem voluminösen Hightech-Rollstuhl, der Kopf wurde gestützt und abgefedert. Die ausgezehrte linke Hand lag auf der Armlehne und war dort mit einer verchromten Manschette fixiert.
Die autarke Rechte umklammerte eine Tropfflasche aus dunkelbraunem Glas. Er atmete aus, schwer, wie ein Krokodil, das über die Freuden des Lebens grübelt.
Das Fon gurgelte. Eine LED in der Armlehne übersetzte das Geräusch in
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