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Sonnenwende

Sonnenwende

Titel: Sonnenwende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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für überflüssig, aber Ada war froh über die Möglichkeit – so blieb sie unberührt.
    Das Labor war im Keller des Krankenhauses untergebracht worden. Blut brauchte keine Fenster. Ada auch nicht. So konnte sie wenigstens niemand sehen. Am liebsten arbeitete sie in der Spätschicht, wenn ihre Kolleginnen gegangen waren und sie das Labor für sich alleine hatte. Bei der Planung des Krankenhauses hatte man es vergessen, so musste es in den Keller, zwischen die Bettenreinigungsstation und die Notstromversorgung. Die von der Reinigung gingen um vier, zusammen mit Adas Kolleginnen. Danach war es still wie auf einem Friedhof, abgesehen von dem Summen der Generatoren und der Arbeitsgeräte. Die Blutproben sammelte Ada auf den Stationen ein. Sie wurde angerufen, wenn es etwas abzuholen gab. Das stand dann in einem Gittergestell im Stationszimmer.
    Letztes Jahr im Mai hatte sie die Blutprobe von Marianne Berger bekommen. Sie und Ada hatten am selben Tag Geburtstag. Zwölfter September dreiundachtzig. Leukämie. Die Leukozytenzählung ergab, dass sie eigentlich gar nicht mehr am Leben sein durfte und höchstens noch ein paar Tage zu leben hatte. Da hatte Ada geweint, so traurig war das. Wie in diesem Roman, wo die Frau erzählte, wie ihre Zwillingsschwester an Krebs starb. Wieder zu Hause, hatte sich Ada richtig bedeutend gefühlt.
    ***
    Es war geblieben. Sein Spiel. Die Musik. Seit mehr als einem Monat wohnte er jetzt über ihr. Ada hatte ihn noch immer nicht gesehen, trotzdem kam es ihr vor, als würden sie sich inzwischen kennen, so oft, wie sie ihn schon hatte spielen hören. Es war vertraut, als würde er ihre eigenen Sehnsüchte in Töne kleiden. Wie Geschwister, die sich nie gesehen hatten. Mehr als |68| einmal war sie kurz davor gewesen, hinaufzugehen. Dann war sie einsamer, als einer allein es ertragen konnte. Im letzten Moment fiel ihr dann ein, dass sie gar nichts zu sagen gewusst hätte.
    Er musste sensibel sein und feinfühlig, sonst hätte er unmöglich so Klavier spielen können. Zartfühlend und verständnisvoll. Vielleicht würde er sogar Ada verstehen. Das war nicht leicht, sie wusste das. Verstehen, weshalb sie sich am liebsten vor der Welt verschließen würde und doch so gerne Anteil daran hätte. Verstehen, wie furchtbar es war, zwischen Abscheu und Verlangen gefangen zu sein.
    Wenn er spielte und Ada gerade nichts zu tun hatte, setzte sie sich auf ihre Couch und schloss die Augen. Dann wünschte sie sich einen angemessenen Sessel, einen schweren, klassischen in schwarzem Leder und so bequem, dass man darin den Tod erwarten konnte.

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    |69| Charlotte
    Wenn Tom und Lara sich trafen, um Paula zu übergeben, wählte er gerne Orte in der Öffentlichkeit, damit jeder ihn dabei sehen konnte. Das Epikur war wie geschaffen: Laras Praxis befand sich gleich um die Ecke, Charlotte freute sich immer, ihn zu sehen, und gegenüber war ein Spielplatz. Von der Hängebrücke konnte Paula gar nicht genug bekommen.
    Zur Begrüßung schlang sie ihre Arme um Tom wie um einen Vater: »Ich weiß schon, ihr wollt erst noch reden. Erwachsene müssen immer erst noch reden«, sagte sie gewohnt altklug. »Aber wenn ihr fertig seid, dann kommst du sofort rüber. Ich muss dir zeigen, wie ich an der Stange rutschen kann.«
    Mit diesen Worten nahm Paula den Spielplatz in Angriff. Bevor sie über die Straße rannte, schaute sie zehnmal nach links und zehnmal nach rechts. Drüben angekommen, winkte sie stolz – geschafft.
    Die Sonne prickelte auf den Armen. Wenn man aus dem Haus kam, wartete das Leben schon darauf, einem die Schönheiten des Tages zu zeigen. Tom fühlte sich beflügelt. Er wusste, dass Lara ihm wirklich dankbar dafür war, dass er ihr heute Paula abnahm; sie wollte mit ihrem aktuellen Liebhaber zu einer Filmpremiere gehen, für die ihr einer ihrer Patienten Karten geschenkt hatte.
    An Tagen wie diesem war ihr Leben furchtbar anstrengend. Nicht, dass sie noch einmal fünfundzwanzig sein, die Nächte durchtanzen und in fremden Betten aufwachen wollte, aber seit sie einen verantwortungsvollen Job und ein Kind hatte, |70| musste jeder Tag ihres Lebens irgendwie durchorganisiert werden. Und wenn dann noch ihr eigenes Herz aufbegehrte, kam es ihr manchmal vor, als sei die Spontaneität früherer Tage von den Mühlen des Alltags zermahlen worden. Dabei ging ihr die Arbeit heute ohnehin auf die Nerven. Manchmal war sie es einfach leid, Tag für Tag in den Mündern anderer Leute herumzupopeln.
    Wenn Lara schlecht drauf

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