Sonnenwende
gleich mit der Bewegung ihres Ganges zum Leben erweckt werden würden und die Sonne durch sie |61| hindurchscheinen würde wie durch einen seidenen Vorhang.
Erst als sie die Straße überquerte und lächelnd an seinem Wagen vorbeischwebte, bemerkte er, dass sie ihn ansah. Für einen Moment war er dem Raum-Zeit-Kontinuum enthoben. Ihr Lächeln weitete sich und gab den Blick auf ihre Zähne frei. Auf der anderen Seite angekommen, blieb sie stehen. Gleich würde er abbiegen, an ihr vorbeifahren und sie ihm nachsehen. Eine schöne Vorstellung – der zu sein, der ging.
Sie
sah
ihm nach. Er blickte zurück und hob eine Hand – es war nicht mal ein richtiges Winken. Eine angedeutete Bewegung der Finger vielleicht, nicht mehr. Sie lächelte. Im nächsten Moment bemerkte er Helen, die gegenüber auf ihrem Damenrad saß und auf Grün wartete. Und so sicher Tom gewesen war, dass die Frau mit den braunen Haaren ihm nachsehen würde, so sicher wusste er, dass Helen ihn beobachtet hatte – und schon war seine Stimmung dahin. Wo sich eben noch wohlige Empfindungen räkelten, plagten ihn jetzt Schuldgefühle, und insgeheim gab er Helen die Schuld, weil sie ihm solche Begegnungen missgönnte, auch wenn sie es nicht wollte.
Dabei war es nur einer dieser kurzen Momente gewesen, die das Leben schöner machten, weil sie einem das Gefühl gaben, dass andere Menschen Freude an einem hatten. Was sollte es also? Und doch wusste er, dass Helen den ganzen Tag darauf herumkauen und ihr Unmut die Wohnung noch nicht verlassen haben würde, wenn er nach Hause kam.
Zur Begrüßung versuchte er es mit einem arglosen »Hallo!«. Helen wollte sich nichts anmerken lassen, aber in ihrem Inneren schwelte es. Paula war da. Sie würde über Nacht bleiben – Lara war auf einem Kongress – und bei ihnen im Bett schlafen. Tom freute sich schon. Vor dem Einschlafen fragte sie ihn |62| immer, ob er ihr den Rücken kraulte. Gutes Gefühl, gefragt zu werden.
Solange Paula noch wach war, herrschte Waffenruhe. Helen und er sahen ihr zu, wie sie mit der Gabel in den Spaghetti stocherte. Es war ein Test. Was muss ich tun, bis einer etwas sagt? Mit den Fingern wischte sie die Soße von den Nudeln, damit sie nicht herunterfielen, wenn sie sie über ihre Nase hängte.
Helen: »Kannst du essen wie ein Mensch?!«
Paula sah verständnislos drein und verkündete: »Tom, ich möchte jetzt ins Bett gebracht werden.«
Das gab es eigentlich gar nicht, Paula ging nie freiwillig ins Bett. Bevor sie sich zum Einschlafen auf die Seite drehte, sagte sie zu Tom: »Ihr seid komisch, heute. Wenn Mama so ist, sagt sie, sie braucht einen Mann. Aber ihr habt doch euch! Ich verstehe das nicht.«
Nachdem sie eingeschlafen war, holte Tom einen Sekt aus dem Kühlschrank.
Helen: »Gibt’s was zu feiern?«
»Weiß nicht. Müssen wir etwas zu feiern haben, um einen Sekt aufzumachen?«
Keine Antwort. Tom entkorkte die Flasche und goss ein.
Helen: »Hattest du einen schönen Tag?«
Das ging schneller als erwartet.
»Ging so.«
»Nette Bekanntschaften gemacht?«
»Massig.«
»An Kreuzungen mit vorübergehenden Frauen geflirtet, vielleicht?«
»Vielleicht.«
»Vielleicht eine, die du auch mal mitnehmen kannst, wenn du mit deinen Freunden ausgehst?«
Das musste ja kommen.
|63| »Nein.«
»…«
Tom: »Hast du ein Problem damit?«
»Ja.«
»Tut mir leid.«
»Mir auch.«
Wenn die Liebe nur groß genug war, übersprang sie jede Hürde.
Oft fühlte Helen sich alleingelassen. Als sei sie eine Belastung, etwas, dessen Tom sich am liebsten entledigen würde. In manchen Momenten spürte sie deutlich, dass er sich zunehmend weigerte, auf ihre Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Er dachte viel zu oft »ich« und nicht »wir«. Um sich nicht andauernd vernachlässigt zu fühlen, besuchte sie seit einiger Zeit chirurgische Seminare und nahm an einer Weiterbildung zur OP-Schwester teil.
Wenn sie auf einer Fortbildung war, wunderte Tom sich jedes Mal, wie sehr er sie vermisste. Trotzdem ging es ihm besser, wenn sie nicht da war und er keine Konzessionen zu machen und Rechenschaften abzulegen hatte. War sie dann wieder zu Hause, blähten sich ihre Probleme innerhalb kürzester Zeit so sehr auf, dass von ihrer Beziehung selbst nicht mehr viel übrigblieb. In den letzten Monaten hatten sich bei Tom vermehrt Zweifel eingestellt, und er fragte sich, ob er je verstanden hatte, was Helen eigentlich von ihm erwartete, und ob ihre Liebe tatsächlich jede Hürde nehmen konnte.
Im
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