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Sonnenwende

Sonnenwende

Titel: Sonnenwende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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war, brachte sie gerne Dinge zur Sprache, die ohnehin an ihr nagten. Ein bisschen wie Frühjahrsputz: Wenn man schon mal aufräumte, konnte man auch gleich die Regale auswischen.
    Lara: »Sag mal, was war eigentlich letzte Woche mit Helen los?«
    Sie spielte auf ihren Geburtstag an, als Helen die ganze Zeit im Abseits gesessen und vergeblich versucht hatte, ihre Tränen herunterzuschlucken. Lara war voller Mitgefühl, aber es war von Unmut infiziert, und Tom verstand sie nur zu gut. Wenn man auf einen ausgelassenen Tag mit Freunden eingestimmt war, und einer saß, ohne sich zu erklären, am Rand und machte den Eindruck, als würde er am liebsten in eine Kreissäge fassen, drückte das empfindlich auf die Stimmung. Alle nahmen Rücksicht, ohne zu wissen, worauf, so wie man in einer Kirche automatisch zu flüstern anfing.
    »Ich weiß es nicht«, sagte Tom, der es tatsächlich nicht wusste. Er hatte sich so daran gewöhnt, Helen in dieser Verfassung zu erleben, dass er das Interesse daran verloren hatte.
    Tom: »Sie hat ein Problem mit mir. Mehr als eins. Aber sie redet nicht darüber.«
    »Sie fühlt sich zurückgesetzt.«
    »So weit war ich auch schon, aber was soll ich machen? Ich liebe sie, aber mit meinen Freunden kann ich sie nicht zusammenbringen. Von dir mal abgesehen. Du bist vielleicht unsere einzige wirklich gemeinsame Freundin.«
    |71| »Sie möchte eben alles für dich sein.«
    »O ja, wie romantisch.«
    »Möchtest du nicht alles für
sie
sein?«
    »Nein, möchte ich nicht. Bin ich auch nicht. Mit ihrem besten Freund Jürgen zum Beispiel trifft sie sich jede Woche. Der ist so unglaublich problemorientiert, dass sich mir die Nackenhaare aufstellen. Sie gehen zusammen in Filme und zu Vorträgen, die mich nicht interessieren, und machen all die Dinge, zu denen mir der Zugang fehlt. Finde ich große Klasse, wirklich. Er tut ihr gut, und ich freue mich, dass sie jemanden hat, der diese Dinge mit ihr teilt.
    Genauso wie dieser Kollege aus dem Krankenhaus, mit dem sie manchmal essen geht. Ich habe ihn nie gesehen, aber die Vorstellung, wie die beiden in ihren Scampis stochern, während sie sich über Hauttransplantationen, offene Kieferbrüche und Prothesen unterhalten, reicht mir, um zu wissen, dass ich diese Lücke nicht füllen muss.«
    »Umgekehrt?«
    »Wäre undenkbar. Sie würde vor Eifersucht die Tapete von den Wänden fressen.«
    »Hört sich an, als wärst du ganz schön frustriert.«
    Mit ihrer Frage nach Helen hatte Lara einen Stein ins Rollen gebracht. Tom sprach sonst nie über ihre Beziehung, mit niemandem. Hätte er vielleicht mal machen sollen. Am liebsten hätte er ihr alles auf einmal gesagt, aber
was
eigentlich, und
wo
anfangen?
    »Ich habe Helen gesagt, dass ich nicht gebraucht, sondern gewollt werden will«, versuchte er schließlich alles in einem Satz zu bündeln. Das war merkwürdig, denn bisher hatte er sich nur vorgestellt, es Helen zu sagen. »Manchmal will ich mich einfach nicht länger verantwortlich fühlen für ihr Leid.«
    Lara: »Schämst du dich, so zu fühlen?«
    »Schlimmer, ich komme mir vor wie ein Krimineller.«
    |72| »Das musst du nicht.«
    »Nein?«
    Wenn Lara das sagte, konnte er kein Verbrecher sein. Sie erzählte von sich und Mark, einem ihrer Exfreunde, und davon, dass er sie so sehr mit seinen Fremdgehverdächtigungen zugekleistert hatte, bis sie es schließlich wirklich getan hatte. Sie nannte es »self-fulfilling prophecy«: Man redete so lange über etwas, bis es tatsächlich eintrat. Tom fand, es klang zu einfach, als hätte sie keine andere Wahl gehabt. Zum Schluss kam Lara wieder auf Helen zurück: »Sie ist einfach der lebende Vorwurf.«
    Toms erster Impuls war, Lara aufs heftigste zu widersprechen, aber alles, was herauskam, war: »Gut, dass sie dich nicht hören kann. Das würde sie ganz schön verletzen.«
    »Manchmal denke ich, dass es das beste wäre, wenn ihr euch trennt. Dann muss sie wenigstens keine Angst mehr haben, dich zu verlieren.«
    »Ist es so offensichtlich?«
    »Für mich schon.«
    Tom war konsterniert, weil Lara ohne Skrupel das für ihn Unsagbare aussprach – Trennung. Wusste sie nicht, dass der heilige Gral nicht angetastet werden durfte? Die Schatten der Kastanie krochen über das Pflaster und stießen an seine Füße.
    Mitten in seinem Gram ließ Lara ihn sitzen. Sie hatte ein Gespür für Timing. Die Patienten riefen nach ihr, sie musste zurück in die Praxis. Tom sah ihr nach, wie sie auf den Spielplatz ging, um sich von Paula zu

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