Sonnenwende
Freundeskreis dachten viele, Helen und er seien das ideale Paar, der lebende Beweis dafür, dass es auch anders ging als auf die traditionelle Art: Heirate mich, bring Geld nach Hause, mach mir zwei Kinder und lass uns gemeinsam unzufrieden werden und unseren Träumen von einst nachhängen, dafür ersparen wir uns auch die Sinnfrage.
|64| Bei Paul und Charlotte hatten auch alle gedacht, keine Hürde könne zu hoch sein, und dann hatten sie die Latte doch gerissen, obwohl sie sich geliebt hatten – und darauf bestanden, es noch immer zu tun. Vielleicht konnte Liebe doch nicht alles.
Die Schwierigkeiten ihrer Beziehung verstärkten Toms Wunsch, Helen zu heiraten. Seit nichts mehr darüber hinwegtäuschen konnte, dass sie auseinanderdrifteten, suchte er nach einer Möglichkeit, sie zu halten. Das war nicht besonders intelligent, auf der anderen Seite: Vielleicht müsste er dann weniger Zweifel und Helen weniger Angst haben, und sie könnten sich wieder mehr um sich als um ihre Beziehung kümmern – und endlich eine Familie gründen.
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|65| Ada
Ihre Wohnung war sauber. Immer. Menschen, die im Schmutz lebten, hatten schmutzige Gedanken. Sie hätte auch nie ein Haustier haben können, einen Hund oder eine Katze. Allein der Geruch vernebelte ihr die Sinne. Und diese Haare überall! Im schlimmsten Fall brachten die dann noch Zecken in die Wohnung, die in ihrem Bett lauerten und sich nachts in ihren Hals fraßen und sie aussaugten. Und wenn es eine Katze wäre, dann müsste sie im Bad ein Katzenklo aufstellen, und da würde die Katze dann reinmachen, und Ada müsste das jeden Tag säubern.
Ein Aquarium, das wäre möglich. Da hatte sie schon oft drüber nachgedacht. Weil sie doch das Meer so liebte und das Wasser. Aber auch ein Aquarium musste von Zeit zu Zeit gesäubert werden, man musste schmierige Algen entfernen und so was. Das war dann nicht schön.
Das Meer war so beruhigend und unumstößlich, nicht so wankelmütig wie sie selbst. Es war nicht an einem Tag da und am nächsten nicht. Es war immer da. Aber auch das Meer durfte ihr nicht zu nahe kommen. Sie könnte nie darin baden – ohne zu wissen, was unter ihr war. Am Strand entlanglaufen, mit den Füßen im Wasser, das musste toll sein, aber richtig darin schwimmen – nein. Dann schon eher im Schwimmbad, aber da waren so viele Menschen, und die schwitzten und ließen ihren Urin ab, während sie sich miteinander unterhielten. Das war ekelhaft.
Es gab schöne Fische fürs Aquarium. In der Apotheke an der Ecke hatten sie eins im Schaufenster. Wenn sie zur Arbeit |66| ging, machte Ada immer einen Umweg, um es sich anzusehen. Eine Fischart war nach Picasso benannt, das jedenfalls hatte ihr der Apotheker erzählt. Der Picasso-Fisch war gestreift, blau und gelb. So einen wollte sie in ihrem Aquarium auch haben, und einen von den länglichen in Türkisblau. Die Farbe war so gewaltig, als müsste man darin eintauchen können.
So wie in ihre Bücher. In manche konnte sie hineingleiten wie in einen Handschuh. Letzte Nacht war sie eine Studentin aus Paris gewesen, die sich in einen Fischer verliebt hatte. Einen Mann des Meeres, einen Beherrscher des Wassers. Er war stark. Sie mussten durchs Wasser waten, um auf eine kleine Insel zu gelangen, wo sie sich liebten, im Schatten der Nacht, als ob sich ihre Körper schon immer gekannt hätten … Als Ada endlich das Licht löschte, war ihr Schlüpfer ganz feucht. So zu lieben war schön. Lieben ging nur aus der Entfernung. Dann war die Liebe rein und klar und unverdorben, ohne Schweiß, Speichel und Samen. Wie ihre Arbeit im Labor. Dort roch es auch, aber sauber. Es waren die Desinfektionsmittel, die den Bakterien zu Leibe rückten. Ein beruhigender Geruch.
Ada mochte ihre Arbeit. Sie war von lauter Menschen umgeben und musste doch keinen sehen. Schicksale in Reagenzgläsern. Ihr Labor war eine Bibliothek menschlichen Leidens, Hunderte tragischer Geschichten umgaben sie. Jeden Tag bekam sie einen neuen Korb voll, versiegelt in sterilen Röhrchen. Namen, Daten, Zahlen. Manchmal waren es Zahlen, die über Leben oder Tod entschieden. Und alles war so sauber. Nichts erreichte sie wirklich. Beim Arbeiten konnte sie Latexhandschuhe tragen, das war gut. Ihre Haare verbarg sie unter einer blauen Haube, und ihre Schuhe hatten eine zweite Haut aus Kunststoff. Bevor sie ging, warf sie alles in einen dafür vorgesehenen Container, später wurde es dann verbrannt. Es war keine Vorschrift, und ihre Kolleginnen hielten |67| es
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