Sonnenwende
Abendgarderobe aussehen ließ. Zu alt für alles, dachte Wladimir.
»Ich hätte schwören können, dass ich es eben noch gehabt habe!«, rief sie und wühlte aufgebracht in ihrer Handtasche.
»Beruhige dich«, sagte eine Nachwuchsperlenkette. »Es kann doch nicht einfach so verschwunden sein.«
»Ich werde wahnsinnig, wenn es weg ist!«
Hektisch blickte sie um sich. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Sie suchte erst den Boden, dann ihre Umgebung ab. In ihrer Verzweiflung blieb ihr Blick an Wladimir kleben. Ihre Augen verengten sich. »Schau mich nicht so an, du blöde Glucke«, dachte Wladimir. »Ich hab’ es nicht.« Doch ihr schrecklicher Verdacht richtete sich allein auf ihn. Sie machte zwei Schritte auf ihn zu, unsicher, was als Nächstes passieren sollte.
Wie von Geisterhand inszeniert, verwandelte sich das Foyer plötzlich in eine Bühne: Der Chor der Opernbesucher nahm im Halbkreis Aufstellung, die Perlenkette wurde zur Primadonna, Wladimir zum Heldentenor. Jeden Moment würde sie lossopranieren: »Du-u hast es ge-stoh-len!«, auf »stoh« das |97| hohe C erreichend und dabei einen speerspitzen Finger in Wladimirs Brust bohrend. Gespannte Erwartung.
Als die Dramatik ihren Höhepunkt erreichte, öffnete sich die Tür, und Franziska kam herein. Sie erstarrte, mit einem Bein auf der ersten Stufe, hinter ihr schloss sich das Tor eines Hochsicherheitstraktes. Der Nachhall flüchtete die Gänge hinauf und versteckte sich in den Gardinen der Logen. Stille. Schließlich hielt Wladimir es nicht mehr aus: »WAS!?«, fauchte er die Perlenkette an. Franziska erfasste die Situation und handelte sofort: Sie stürmte die Treppe hinauf, warf sich schützend vor Wladimirs Brust und sang aus voller Kehle: »Fort von meinem Maaa-aaann / du gräss-lich al-tes MOOON-STER!«
Die Mumie mit den Stöckelschuhen musste Franziskas moralische Überlegenheit anerkennen und vor der Unbezwingbarkeit der Jugend in die Masse des Chores zurückweichen.
So jedenfalls spielte es sich in der Vision ab, die Wladimir in diesem Moment durchlebte. In Wirklichkeit ertönte die Klingel. Der Chor verschwand langsam von der Bühne, Franziska fragte ihn, ob etwas nicht in Ordnung sei, und die Perlenkette murmelte: »Da ist es ja«, zog ein Zigarettenetui aus ihrer Tasche und wandte sich wieder den Ihren zu.
»Es war nicht mal Ihr Portemonnaie …«, sagte Wladimir gedankenverloren.
»Wovon redest du?«, wollte Franziska wissen.
»… Macht die so einen Tanz um ein beschissenes Zigarettenetui!«
Die Anspannung wich schlagartig aus Wladimirs Körper, und er fühlte sich seltsam leicht, geradezu beflügelt. Einen Moment noch stand er reglos im Foyer, dann musste er laut loslachen. So laut jedenfalls, dass es die Perlenkette nicht überhören konnte.
Franziska hatte ihre Haare zu einem aufwendigen Stillleben onduliert: eine asymmetrische Frisur mit zwei freiheitsliebenden Locken auf einer Seite. Sie trug einen dunkelblauen Anzug |98| mit einer weißen Bluse darunter, deren Kragen über den des Jacketts ragte. Die drei oberen Knöpfe hatte sie aufgelassen. Beschwingt steuerten sie ihre Plätze an.
Während der Aufführung musste Wladimir immer wieder zu Franziska hinüberschielen. Er war ganz begeistert von seiner Idee mit dem Opernbesuch. War ja eine ziemlich pompöse Angelegenheit, so eine Oper. Und die Zuschauer! Machten alle schwer auf betroffen. Da wurde ganz schön was weggeheuchelt. Aber schön war es trotzdem. Er mochte es, wie die Musik den Raum füllte und die Stimmen durch die Luft säbelten, auch wenn dieses Rumgepose auf der Bühne albern anmutete und er nicht einsah, wieso man versuchen sollte, an der Story dranzubleiben.
Alles lief planmäßig – bis Franziska plötzlich während der Arie der Turandot lautlos zu weinen anfing. Wladimir wurde von Panik ergriffen. Was war los? Nahm sie das ganze Theater etwa ernst? Himmel, das war doch nur eine Oper! Nicht zu glauben. Er war ehrlich gerührt. Frauen waren ein Wunder. Und so schön sie waren, so wenig konnte man sie verstehen; es lag in der Natur der Sache.
In der Pause konnte er vor Penetrierlust kaum noch an sich halten: »Und, gefällt es dir?«
»Ja, sehr. Es ist sooo schön.«
»Und? Wie geht’s deinem Freund?«
Franziska sah ihn an, als habe sich vor ihren Augen Gold in Pappe verwandelt.
»Wie kommst du denn jetzt auf den?«
»Hast du nicht gesagt, er arbeitet für sechs Wochen in Wiesbaden?«
»Ja. Morgen kommt er zurück.«
»Na, dann kann ich ja heute noch mit zu
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