Sonnenwende
Ich-habe-einen-Freund-Gequatsche all die Jahre über fehlgedeutet hatte. Dieser Ausspruch – Paul nannte ihn die »Sentenz der schwarzen Partywitwe« – bedeutete nicht notwendigerweise das Ende einer Annäherung, sondern sollte signalisieren, dass mit der Frau alles in Ordnung war. Wahrscheinlich hatten nicht mal alle, die es behaupteten, tatsächlich einen Freund, sondern dachten, es werfe ein schlechtes Licht auf sie, wenn sie zugäben, keinen zu haben.
War ja irre!
|94| Charlotte war kurz an den Tisch gekommen: »Wladimir?«
Er nahm sich vor, die nächste Sentenz der schwarzen Partywitwe an das grelle Licht der Wahrheit zu zerren.
»WLADIMIR?«
»… Was?«
» Willst
du noch Kaffee, oder nicht? Wahrscheinlich besser nicht.«
»Und ob! Hahaha!«
Tom: »Stimmt was nicht?«
»Im Gegenteil, ich bin der, bei dem es stimmt. Gib mir mal dein Handy, ich muss dringend Franziska anrufen.«
***
Seit es in Wladimirs Wohnung keinen Ort mehr gab, an dem er sich aufhalten konnte, ohne von den Büchern seines Vaters bedrängt zu werden, zog er hin und wieder eins aus dem Regal und blätterte darin. Es war erstaunlich, worüber sich die Menschen im Laufe der Geschichte alles Gedanken gemacht hatten. Gelegentlich las er ein paar Seiten, wenn ein zufälliges Wort oder Bild seine Neugier weckte. Neulich hatte er sogar eins mit zur Arbeit genommen, weil das Foto eines Mannes darin abgedruckt war, der enorme Ähnlichkeit mit seinem Vater hatte – Giacomo Puccini, ein Komponist.
Tom war sichtlich überrascht, Wladimir während einer Schleifpause mit der Flex auf dem Schoß und einem Buch in der Hand auf zwei Lackeimern sitzen zu sehen.
»Bist du so frustriert, dass du jetzt mit Lesen anfängst?«
»Wenn Lesen als Therapie geeignet ist, dann frage ich mich, wann sie bei dir endlich anschlägt.«
»Sehr witzig. Was liest du denn?«
»Eine Biographie über einen Komponisten – Puccini. Ist ganz lustig. Der Typ hat eine Oper geschrieben …«
|95| »… er hat ein paar mehr als nur eine geschrieben.«
»Ja, du Klugscheißer, weiß ich auch, aber die stehen am Anfang. Ich lese natürlich nur den Schluss, sonst erfahr’ ich nie, wie er gestorben ist – die Biographie hat vierhundert Seiten! Also … Die Oper heißt ›Turandot‹, und es geht um – warte, gleich hab’ ich’s – den ›endlichen Triumph der Liebe‹. Kein Wunder, dass er sie nicht fertigbekommen hat.«
Wladimir hatte gerade gelesen, dass dieser hoffnungslos schwärmerische Puccini einen Brief an seinen Texter geschrieben hatte, in dem stand: »Pressen Sie sich Herz und Hirn aus, um für mich etwas zu schaffen, das die Welt weinen machen soll. Man sagt, Sentimentalität sei ein Zeichen von Schwäche. Aber ich finde es schön, schwach zu sein!« Was für eine Wurst.
In diesem Moment kam Wladimir eine Idee: Das musste der Stoff sein, der Franziska von alleine weichkochen würde, Wladimir brauchte nur danebenzusitzen und zuzusehen. »Turandot« schien die perfekte Wahl, das Rätsel der »eisum gürteten « Heldin, die sich als Verkörperung der Jungfräulichkeit gegen den erobernden Mann zur Wehr setzte, glaubte Wladimir jedenfalls gelöst. Er würde dem Henker nicht zum Opfer fallen, und auf den endlichen Sieg der Liebe hatte er es sowieso nicht abgesehen.
***
Wladimir war ganz klar fehl am Platz, und strenggenommen war Franziska schuld. Wäre sie pünktlich gewesen, würde er jetzt nicht im Foyer stehen müssen wie ein Promenadenmischling auf einer Pudelschau. Die Besucher machten einen Bogen um ihn, als fürchteten sie, seine verwaschene Jeans könne die Farbe aus ihren Abendkleidern saugen. Er hätte es sich denken können – bei den Preisen. Für die Karten hatte er |96| Tibatongs komplette Abstellkammer abschleifen und stundenlang auf den Knien im Staub kriechen müssen. Irgendeine Berühmtheit würde heute den Taktstock schwingen – Wladimir hatte den Namen vergessen –, und die Sopranistin war, wie er dem Gespräch einer nebenstehenden Gruppe Perlenketten entnommen hatte, der »rising star« am internationalen Gesangshimmel. Wo blieb nur Franziska?
Unvermittelt stieß eine von den Perlenketten einen spitzen Schrei aus; das gesamte Foyer zuckte zusammen. Wladimir fuhr herum. Alles, was er sehen konnte, war, dass sie zu alt war. Zu alt für die Schuhe, in die sie ihre Füße gezwängt hatte, zu alt für den Lippenstift, der aus ihrem Mund eine lodernde Schlucht machte, zu alt für ihr Dekolleté, das sie wie einen Elefanten in
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